Achtsamkeitstraining: Hungrig auf Entspannung

Von Christian Kunst

Die moderne Gesellschaft ist gestresst. Die Achtsamkeit zu schulen, gilt als wichtiges Heilmittel. Doch wie funktioniert das? Unser Redakteur hat den Selbstversuch gewagt – und erstaunliche Erfahrungen bei einem achtwöchigen Training gesammelt.

Lesezeit: 12 Minuten
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Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.

(Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl)

Ich habe Hunger. Mein Rücken tut weh. Meine Beine sind taub. Ich. Will. Reden. Aufstehen. Gehen. Essen. Nicht. Mehr. Meditieren.

Ich bleibe sitzen. Mein Rücken ist gerade, der Scheitel strebt nach oben. Meine Beine sind angewinkelt. Mein Hintern thront auf zwei übereinanderliegenden Meditationskissen. Es ist ein Samstag im November, Achtsamkeitstag, Höhepunkt eines Kurses, in dem ich lerne, besser mit meinem Stress umzugehen. Mir gegenüber sitzt Sonja Plachetta, meine Kursleiterin. Seit sechs Wochen treffen wir uns einmal in der Woche, um unsere, vor allem aber meine Achtsamkeit zu schulen. Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz MBSR, auf Deutsch achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung heißt der achtwöchige Kurs.

Am Achtsamkeitstag werde ich sechs Stunden schweigen, meditieren, im Sitzen, im Liegen, im Gehen, im Stehen. Ich werde Yogaübungen machen, unterbrochen von Pausen, in denen ich trinken oder an die frische Luft gehen kann. Sechs Stunden, die ich so schnell nicht wieder vergessen werde. Ich werde viel über mich erfahren, das ich bislang nicht gewusst habe, weil ich mir, meinen Gedanken und Gefühlen vielleicht noch nie so lange am Stück Aufmerksamkeit geschenkt habe. Ich werde weinen, lachen, leiden und einfach sehr glücklich sein. Ein Abenteuer. Eine Reise in die eigene Achtsamkeit.

MBSR ist beliebt. Viele Volkshochschulen bieten den Kurs an. Stress zu reduzieren – das ist die neue große Sehnsucht in Zeiten von permanenter Reizüberflutung, beruflicher und privater Überlastung, Forderungen nach ständiger Verfügbarkeit und zunehmenden psychischen Erkrankungen. Bereits Ende der 70er-Jahre hat der US-Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn das Konzept des MBSR zusammen mit seinen Mitarbeitern an der Universität von Massachusetts entwickelt. An der dortigen Stressklinik nahmen bisher Tausende Patienten an dem Kurs teil. Nach Deutschland ist das Training vor etwa einem Jahrzehnt gekommen. Seitdem wird es an Kliniken, Gesundheitszentren oder auch in der beruflichen Weiterbildung eingesetzt. Oder eben ganz privat – wie bei mir.

Die ganze Fülle des Lebens liegt in der Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks, im Jetzt. Aber viel zu oft stehen wir dieser Erfahrung selbst im Weg. Wir sehen nichts so, wie es wirklich ist, weil wir allem ständig unsere vorgefasste Meinung überstülpen. Um den Reichtum des Augenblicks sehen zu können, müssen wir den Geist des Anfängers entwickeln, das heißt eine innere Einstellung der Offenheit gewinnen, die bereit ist, alles so zu sehen, als wäre es das erste Mal.

(Jon Kabat-Zinn, MBSR-Begründer)

Als ich meine Kursleiterin im Oktober das erste Mal treffe, komme ich aus dem Büro. Mein Kopf ist voll mit Gedanken. Mit Stress. Ich habe an diesem Tag noch einen Kommentar geschrieben, obwohl ich wusste, dass am Abend der Kurs beginnt. Dazu kamen neben der üblichen Arbeit viele Telefonate und eine Diskussion mit dem Chef. Mein Abendessen – zwei belegte Brötchen in einer Tüte – habe ich in der Hand, als wir uns begrüßen. Wie soll ich mich jetzt nur entspannen?

Mit einem sanften Gongschlag eröffnet Sonja – beim MBSR duzt man sich – die ersten zweieinhalb Stunden. Wir sitzen uns gegenüber – ich im Schneidersitz, Sonja auf ihrem Meditationsbänkchen, aufrecht, milde Gesichtszüge. Mit sanften Worten erzählt sie mir von der Achtsamkeit, um die es beim MBSR geht. Dass wir unsere Aufmerksamkeit in den gegenwärtigen Moment bringen wollen und die Wirklichkeit wahrnehmen möchten, ohne sie zu bewerten – egal, ob sie für uns angenehm oder unangenehm ist.

Sie erzählt von Jon Kabat-Zinn, der seine Patienten durch das Achtsamkeitstraining dazu ermutigt hat, sich nicht ständig gegen unangenehme Gefühle wie Stress oder Schmerz aufzulehnen. Sie seien dadurch gelassener und ruhiger geworden, weil sie erkannt hätten, dass es neben all dem Schmerz auch viele Dinge in ihrem Leben gibt, die in Ordnung sind. Das ständige Bewerten, all die Vorurteile und Ängste seien eine Tyrannei, aus der uns die Achtsamkeit befreien könne.

Ich bin verwirrt: Mein ganzer Beruf besteht aus Bewerten. Ich bewerte Nachrichten, Politik, Menschen, Entscheidungen. Und im Privaten? Wie kann es schlecht sein, jemanden zu bewerten für das, was er tut? Wie kann ich sonst entscheiden, wer mein Freund ist und wer nicht? Sonja scheint auf diese Fragen gewartet zu haben. Sie sagt: „Es geht nicht darum, das Beurteilen abzublocken, sondern darum, zu erkennen, dass es geschieht. Es ist vollkommen überflüssig, die Gewohnheit des Beurteilens selbst auch zu beurteilen. Das macht alles nur noch komplizierter.“

Wir üben Achtsamkeit. Im Liegen. Body-Scan nennt sich die Meditation, bei der der Körper in Gedanken von den Zehen bis zum Scheitel erkundet wird. „Sei bereit, dich deinem Körper sanft und freundlich zuzuwenden und alle Signale bewusst wahrzunehmen, die er aussendet“, sagt Sonja. „Spüre deinen Atem, und lasse deinen Körper mit jedem Atemzug tiefer sinken.“ Das kann ich, denke ich. Seitdem ich einen Kurs zum Autogenen Training gemacht habe, weiß ich, wie man Körper und Geist mit dem Atem quasi in eine Art Trancezustand bringen kann oder wie der Arm sich plötzlich warm anfühlt, indem man sich vorstellt, dass das Blut mit dem Atem dort hineinfließt. Die Macht der Gedanken. Doch die ist hier nicht gefragt, lerne ich bei Sonjas nächsten Worten: „Versuche, ganz wach zu sein für deinen Körper, ihn neugierig und offen zu erkunden, so als wäre er ein fremdes Land, das du zum ersten Mal bereist. Registriere alle Gedanken und Gefühle und Körperempfindungen, die sich zeigen, ganz gleich, ob sie in diesem Moment angenehm, unangenehm oder neutral sind. Nimm alles, was dir begegnet, mit einer wohlwollenden Haltung an. Wichtig ist allein die Qualität deiner Aufmerksamkeit. Wenn dich deine Gedanken ablenken, beobachte gelassen, wovon du abgelenkt wirst, und kehre dann mit deiner Aufmerksamkeit in die Körperregion zurück. Erlaube dir, alles, was sich zeigt, willkommen zu heißen. Beobachte deinen Atem. Beeinflusse ihn nicht, sondern lass ihn einfach geschehen.“

45 Minuten lang durchwandere ich meinen Körper. Schon in den Beinen spüre ich die wirkliche Macht meiner Gedanken – wie sie mich ablenken, wegreißen, quälen, verführen, lähmen. Als ob Sonja dies ahnen würde, sagt sie mit sanften Worten: „Betrachte deine Gedanken wie Wolken, die am Himmel vorüberziehen.“ Eine wunderschöne Vorstellung. Wie am Ostseestrand, wo ich im Sommer gern die vorüberziehenden Wolken betrachte. Vom Strand kehre ich zu meinem Knie zurück, das heute wieder einmal zwickt. Das erste Mal seit langer Zeit widme ich mich so bewusst den Regionen meines Körpers. Am rechten Oberschenkel fühle ich etwas Seltsames. Ich kann es kaum beschreiben. Irgendwie ist es ein Gefühl aus der Kindheit. Seltsam vertraut und doch nicht fassbar. Am Bauch nehme ich wahr, wie der Atem von allein fließt. Was für ein Wunderwerk, dieser Körper. Oh. Eine Wertung. Da bin ich schon in den Schultern, in den Armen, den Händen, da ist der kleine Finger, da die Ohren, der Scheitel. Mehrmals während der Reise zieht Sonja mich mit ihren Worten aus dem Sog der Gedanken – zurück auf den Weg durch meinen Körper.

Am Ende durchströmt mein Atem den Körper vom Scheitel bis zu den Füßen. Ein erhabenes Gefühl. Ich fühle mich glücklich wie ein Kind, das von seinem Vater in die Luft geworfen und wieder aufgefangen wird. Nur, dass das Glück von mir selbst kommt, indem ich mich selbst beobachte. Später, als ich im Auto sitze, zweifele ich. Was ist da gerade passiert?

Kein Hokuspokus, sondern wissenschaftlich fundiertes Heilmittel bei der Behandlung vieler Krankheiten: Immer mehr Ärzte und Kliniken setzen das MBSR-Training ein, um etwa Depressiven, aber auch chronischen Schmerzpatienten Unterstützung bei der Bewältigung ihres Leidens zu geben.
Kein Hokuspokus, sondern wissenschaftlich fundiertes Heilmittel bei der Behandlung vieler Krankheiten: Immer mehr Ärzte und Kliniken setzen das MBSR-Training ein, um etwa Depressiven, aber auch chronischen Schmerzpatienten Unterstützung bei der Bewältigung ihres Leidens zu geben.
Foto: dpa

Sonja hat mir eine Hausaufgabe mitgegeben: täglich einmal 45 Minuten mit einem Body-Scan meditieren. Obwohl sie mir sogar eine CD überreicht, auf der sie mich durch die Körpererfahrung führt, schaffe ich es nicht ein Mal. Der Stress, die Arbeit. Als ich in der nächsten Woche zu Sonja fahre, denke ich an die drei Ziele, die ich beim ersten Mal auf ihr Anraten notiert habe. Ziele, die ich mit dem MBSR-Kurs erreichen möchte: „1. Dass ich mich mit mir wohler fühle und besser schlafen kann. Endlich wieder schlafen können wie ein Kind. 2. Dass ich achtsamer mit meinem Körper umgehe, mich achtsamer ernähre. 3. Dass mich der Stress nicht mehr so packt.“

Geduld ist Weisheit, eine Art inneres Wissen. Sie bringt zum Ausdruck, dass wir verstehen und akzeptieren, dass Dinge manchmal ihre eigene Zeit benötigen, um sich beziehungsweise ihre Wirkung zu entfalten. Ein Kind mag eine Larve aus Unwissenheit aufbrechen, um den Schmetterling daraus zu befreien. Ein Erwachsener weiß, dass man seinen Wachstumsprozess nicht beschleunigen kann und dass der Schmetterling in seiner ganzen Pracht eines Tages von selbst zum Vorschein kommt. (Jon Kabat-Zinn)

Diesmal hat Sonja etwas zum Essen dabei: Sultaninen. Doch erst einmal wollen wir sie nicht essen. Sie legt mir eine kleine Trockenbeere auf die Hand. Ich darf sie mit allen Sinnen erleben, an ihr riechen, sie betrachten, sie pressen, reiben, unter meiner Nase, am Kinn, an den Wangen, zwischen den Fingern. Erst ganz zum Schluss kann ich sie auf meine Zunge legen, sie schmecken, sie durch den Mund kneten, sie zerbeißen, kauen, schmecken und erst dann herunterschlucken. Minutenlang beschäftige ich mich mit dieser kleinen Sultanine, die aussieht wie ein Bernstein aus Gummi. Erstaunlich, wie viel Widerstand sie aushält, wie sie duftet, wie sie sich anfühlt. Ein Hauch von Mittelmeer, von Sommer ist spürbar, aber auch etwas Vergängliches, Altes. All das steckt in dieser kleinen, runden Frucht. Und obwohl sie so winzig ist, macht die Achtsamkeit es zu einem Erlebnis, sie zu essen.

Sonja hat eine neue Hausaufgabe für mich: Sie rät mir, nicht nur das achtsame Essen zu praktizieren, sondern die Achtsamkeit auch in meinen Alltag auszuprobieren, beim Duschen, Zähneputzen, Abtrocknen oder Autofahren. Doch bevor wir uns verabschieden, erfahre ich noch, dass MBSR mehr ist als eine angenehme Entdeckungsreise, bei der man liegt oder Sultaninen erkundet. Ich erlebe, dass diese Selbsterfahrung körperlich hart sein kann. Sonja leitet die erste gemeinsame Sitzmeditation an. Zunächst spielt wieder der Atem eine zentrale Rolle. Doch diesmal ist es ungleich schwerer als im Liegen. Denn ich sitze zum ersten Mal auf meinen zwei übereinandergestapelten Meditationskissen, die Beine auf zwei Decken.

Sonja ermutigt mich immer wieder zum aufrechten Sitzen – „aufrecht vor dir selbst“. Ich spüre, wie meine Beine schon nach einigen Minuten einschlafen, der Rücken schmerzt. Eigentlich habe ich mich immer für einen geduldigen Menschen gehalten. Doch daran zweifele ich jetzt. Ich begreife, dass es beim MBSR nicht nur ums Wohlfühlen geht, sondern auch darum, dem zu begegnen, was einem Unbehagen bereitet: Stress, Ungeduld, Schmerz. Immerhin, denke ich, als die Sitzmeditation nach zehn Minuten endet: Weil ich so mit meinem Körper beschäftigt war, habe ich doch glatt meine Gedanken an die Arbeit vergessen.

Der Körper ist ein wunderbares Instrument: Wir halten diese ganz und gar erstaunlichen Fähigkeiten für selbstverständlich, zumindest so lange, bis wir krank werden oder uns verletzen. (Jon Kabat-Zinn)

Als ich Sonja das dritte Mal treffe, bin ich ein wenig stolz. Ich habe nicht nur jeden zweiten Tag am Morgen einen Body-Scan gemacht, sondern zweimal abends sogar eine Sitzmeditation. Und ich habe einen Fragebogen ausgefüllt, in dem ich angenehme Dinge notieren sollte, die ich erlebt habe, und dazu die Gefühle, die ich dabei hatte. Nach einem Interview wurde mir bewusst, wie glücklich es mich gemacht hat, dass sich mein Interviewpartner am Ende des Gesprächs zehn Minuten lang Zeit dafür nahm, um mich zu fragen, wie es mir in Koblenz geht. Früher hätte ich diesen Small Talk schnell wieder vergessen. Und ich berichte Sonja, wie unruhig mich die letzte Übungsstunde gemacht hat, wie sehr ich danach gegrübelt habe. Sie antwortet: „Danke, dass du diese Gedanken mit mir geteilt hast.“ Kein Urteil, nur ein Dank.

Von Woche zu Woche dauert die Sitzmeditation länger. Beim fünften Treffen meditieren wir 45 Minuten. Jetzt geht es auch darum, den Körper, die Gefühle, Gedanken und die Geräusche von außen zu beobachten, ohne sie zu bewerten. Sonja lässt mich auf ihrem Bänkchen sitzen, sie wechselt auf meine Kissen. Auch auf dem harten Holz kämpfe ich mit mir, mit meinem Rücken, der immer wieder schmerzt und in sich zusammensackt. Doch diesmal schläft nichts ein. Und das erste Mal kann ich mich und meine Umgebung für einige Minuten beobachten. Ich höre das Surren des Lichts, den Hund von nebenan, ein Auto, ein Flugzeug. Ich spüre, wie ich mich selbst betrachte, wie ich dasitze, aufrecht, mit mir selbst kämpfend. Als ich die Augen öffne, ist da eine Sanftheit. Eigenartig. Ein wenig fremd. Sie bleibt für diesen Abend. Noch einmal meditieren wir. Im Stehen, die Knie meist leicht gebeugt. Wir machen einige einfache Yogaübungen. Alle Gedanken an den Tag sind verschwunden. Ich bewege mich im Moment. Als wir uns verabschieden, bin ich hellwach, obwohl meine Knie und mein Rücken schmerzen – als ob ich den ganzen Abend Sport gemacht hätte.

Die einfachste Möglichkeit, sich zu entspannen, besteht darin aufzuhören, die Dinge verändern zu wollen. Die eigene Erfahrung anzunehmen, bedeutet einfach, Raum zu lassen für das, was gerade geschieht, und nicht zu versuchen, einen anderen Zustand zu schaffen. (Jon Kabat-Zinn)

Als Sonja einmal über Schmerz und unangenehme Gefühle sprach, da rezitierte sie ein Gedicht des persischen Dichters Rumi, der darin das menschliche Dasein mit einem Gasthaus vergleicht. Jeden Morgen gebe es einen neuen Gast – Freude, Depression, Niedertracht, manchmal auch Achtsamkeit. Jedem dieser Gäste solle man nicht nur die Tür öffnen, sondern sogar einen roten Teppich ausrollen. In der MBSR-Praxis bedeutet dies, während der Meditation beim Empfinden eines solchen unangenehmen Gefühls die Aufmerksamkeit dahin zu lenken und hineinzuatmen. Beim Ausatmen könnte man dann zu sich sagen: „Es ist okay, dass ich mich so fühle. Ich bin bereit, es zu fühlen.“

Daran muss ich denken, als ich in Stunde zwei unseres Achtsamkeitstages fast im Chaos meiner Gedanken und Gefühle ersticke. Hinter mir liegt eine sehr anstrengende Arbeitswoche. Ich bin müde, angespannt, hungrig. Im Kühlschrank steht der Auflauf, den ich mir für das gemeinsame achtsame Mittagessen mitgebracht habe. Doch noch sind es eineinhalb Stunden bis zur Mittagspause. Hinter mir liegen ein Body-Scan, eine Yogasequenz und eine kurze Sitzmeditation. Und jetzt sitzen wir schon wieder.

Ich spüre, wie der Ärger, die Wut in mir aufsteigt. Doch zugleich habe ich mir vorgenommen durchzuhalten, Disziplin zu zeigen. Die kriegen mich nicht unter, denke ich. Und frage mich gleich, wer die eigentlich sind. Mein Magen grummelt immer lauter. Ich will aufgeben, doch dann auch wieder nicht. Meine Wut richtet sich jetzt in Gedanken auf Sonja, die scheinbar entspannt vor mir sitzt und mit sanften Worten durch die Meditation führt. Hat die denn überhaupt kein Erbarmen? Ich will nicht mehr. Irgendwann folge ich wieder ihren Worten. Dann schweigt auch sie, lässt mich allein mit mir. Dann passiert Erstaunliches: Mein Hunger verschwindet. Stattdessen beobachte ich einen Gedanken. Oder ein Bild? Es ist schwer zu beschreiben. Doch was es auch ist – es spricht in einer Klarheit zu mir, die mich ergreift. Tränen fließen über mein Gesicht. Was mich so berührt, ist eine Frage, die eine innere Stimme an mich richtet: Was, wenn der Hunger, der Drang, die Lust zum Essen wie ein Gefängnis ist, das dich deiner Freiheit beraubt? Was, wenn du diesen Hunger selbst befriedigen kannst, indem du dir selbst zuhörst, indem du zwischen dem Reiz (Hunger) und der Reaktion (Essen) Raum lässt? Dieser Raum muss wohl Freiheit sein.

Die Schulung der Achtsamkeit führt zu einer neuen Sicht- und Seinsweise, weil sie dem Meditierenden die Kraft und Bedeutung des gegenwärtigen Augenblicks erschließt. Das Jetzt ist der einzige Augenblick, in dem wir wirklich leben. Das Jetzt ist die einzige Möglichkeit, die wir haben, um wirklich zu sehen, wirklich heil und gesund zu werden. (Jon Kabat-Zinn)

Ich habe den Auflauf an diesem Samstag genossen, jeden Bissen. Es hat anders als sonst geschmeckt. Vielleicht, weil ich so dafür kämpfen musste? Oder vielleicht gerade nicht? Die restlichen Stunden mit Sonja waren anders. Ich habe weiter im Sitzen gelitten. Doch dem einen oder anderen Gast habe ich die Tür geöffnet. Für den roten Teppich hat es aber noch nicht gereicht.

Als der Kurs im Dezember endet, bin ich sicher, dass ich nie mehr aufhören werde zu meditieren. Sonja und ich essen noch einmal zusammen. Ich empfinde viel Dankbarkeit.

Kurz vor Weihnachten interviewe ich einen Psychologen. Als ich ihm von meinen Meditationserfahrungen berichte, erzählt er mir, dass er jeden Morgen meditiert – es sei unverzichtbar für ihn geworden. Es ist ein berührender Moment für mich.

Nach Weihnachten bekomme ich eine Bronchitis. Ich unterbreche meine Meditationen. „Das Trainingsende ist der Anfang vom Rest des Lebens“, sagt Jon Kabat-Zinn. Er hat recht. Ohne Kurs, ohne Anleitung ist es ungleich schwerer, regelmäßig zu meditieren oder Yoga zu machen. Manchmal schaffe ich es trotzdem.

Vor Kurzem habe ich meine Ernährung umgestellt und seitdem zehn Kilo abgenommen. Ob es mit MBSR zusammenhängt? Ich weiß es nicht. Aber die Freiheit, etwas anderes zu essen, habe ich mir genommen.

Christian Kunst