Ausgehartzt: Wenn Jugendliche wieder zurück auf den rechten Weg finden

Gina (rechts) und Sarah haben den Weg aus der Sozialhilfe heraus geschafft: Sie machen derzeit bei Rechtsanwalt Christian Vollheim eine Ausbildung. Begleitet wurden sie dabei vom Juwel aus Bad Ems, einer Einrichtung, die sich um benachteiligte Jugendliche kümmert.
Gina (rechts) und Sarah haben den Weg aus der Sozialhilfe heraus geschafft: Sie machen derzeit bei Rechtsanwalt Christian Vollheim eine Ausbildung. Begleitet wurden sie dabei vom Juwel aus Bad Ems, einer Einrichtung, die sich um benachteiligte Jugendliche kümmert. Foto: Sascha Ditscher

Für die ist der Zug abgefahren, mag man denken, wenn man sich die krummen Biografien mancher Jugendlicher ansieht. Doch überall im Land gibt es Helfer, die die jungen Leute nicht aufgeben wollen. Zum Beispiel beim Juwel in Bad Ems – einem Projekt, das wegen seines besonderen ganzheitlichen Konzeptes bundesweit auf Interesse gestoßen ist.

Lesezeit: 5 Minuten
Anzeige

Von unserem Journalchef Michael Defrancesco

Schwanger, ohne Partner, keine Ausbildung. Ein Leben von Hartz IV? Sarah (23) kann sich noch gut an diese Zeit ihres Lebens erinnern. Ihre Aussichten damals: nicht besonders rosig. Heute ist sie im zweiten Lehrjahr zur Rechtsanwaltsfachangestellten. Ihrem Kind geht es gut. In ihrem Beruf macht sie eine prima Figur. Ihre Aussichten: Sarah hat konkrete Pläne für ihre Zeit nach der Ausbildung. Sie kann ihr Leben wieder steuern.

Zwei Schutzengel hatte Sarah auf diesem Weg: Zuerst waren da die Mitarbeiter vom Juwel in Bad Ems, einer Einrichtung zur Berufsintegration Jugendlicher, getragen von der Agentur für Arbeit Montabaur und den Jobcentern Rhein-Lahn und Westerwald und gefördert aus Landesmitteln und vom Europäischen Sozialfonds. Sie kümmerten sich um Sarah, bauten sie seelisch wieder auf, trainierten das Schreiben von Bewerbungen und das Vorstellungsgespräch.

Und da war Christian Vollheim, Rechtsanwalt aus Bad Ems, der Sarah eine Chance gab. „Ich bin Christ, und deshalb ist es für mich selbstverständlich, junge Leute mit schlechten Startchancen zu unterstützen“, sagt Vollheim. „Aber ich möchte sie auch nicht bevorzugen. Natürlich muss es auch passen, denn meine Auszubildenden müssen schnell auch Verantwortung in meiner Kanzlei übernehmen.“ Sarah hinterließ bei ihm gleich einen bleibenden Eindruck: „Ihre Bewerbung war herausragend“, erinnert sich Vollheim. Und da sich der gute Eindruck beim Vorstellungsgespräch bestätigte, bekam die junge Mutter die begehrte Stelle.

Die vom Juwel hören das gern. Für sie ist das ein weiterer Beweis dafür, dass ihr Konzept den richtigen Ansatz hat. „Wir haben ein ganzheitliches Angebot, das Konflikt- und Krisenintervention beinhaltet“, sagt Bereichsleiterin Susan Hempel von der Gesellschaft zur Förderung Beruflicher Integration (GFBI), die von Juwel-Trägern mit der konkreten Alltagsarbeit beauftragt wurde. „Meist schleppen die jungen Leute, die das Jobcenter zu uns schickt, so ein Paket voll ungelöster Probleme mit sich herum, dass sie gar keinen Blick für den Beruf oder ihre Berufswahl haben.“

Manche haben immerhin Abitur, viele aber haben die Schule ohne Abschluss abgebrochen. Manche stehen trotz ihrer Jugend vor einem Schuldenberg, haben einen Bewährungshelfer, waren schon mit Drogen in Berührung oder haben psychische Probleme. „Wir lassen sie nicht hängen und sagen nicht: Dafür sind wir nicht zuständig“, sagt Susan Hempel. Dazu gehört auch, dass die jungen Leute nicht von Helfer zu Helfer geschoben werden. „Ein solcher Helfersalat bringt gar nichts, viele, die hier ankommen, wissen gar nicht mehr, welcher Helfer wofür bei ihnen zuständig ist.“

Dazu gehört zuerst einmal, dass das Juwel ohne Zeitdruck arbeiten kann. „Im Schnitt ist jeder Jugendliche drei bis vier Monate bei uns“, sagt Susan Hempel. „Aber wir passen uns dem Tempo des jeweiligen Jugendlichen an und gehen ganz individuell vor.“

Christian Vollheim findet den ganzheitlichen Ansatz genau richtig. „Es fehlt bei diesen jungen Leuten oft an sozialen Fähigkeiten“, hat er beobachtet und zählt fehlende Pünktlichkeit, Ordnung und Umgangsformen auf. Sarah nickt: „Ich habe im Juwel viele getroffen, denen es schon zu viel war, jeden Tag von 8 bis 12 Uhr vorbeikommen zu müssen.“

Zarah Rebecca Herrmann, pädagogische Mitarbeiterin bei Juwel, kann davon ein Lied singen. „Die große Herausforderung für uns ist es, das Vertrauen der jungen Leute zu gewinnen.“ Denn es ist ja nicht so, dass sie freiwillig kommen. Nein, das Jobcenter schickt sie – mit allen Konsequenzen, die drohen, wenn man sich als Hartz-IV-Empfänger der Maßnahme verschließen würde. „Die Hälfte, die kommt, denkt: Ich kann alles. Die andere Hälfte denkt: Ich kann nichts. Für uns ist beides erst einmal schwierig.“ In Einzelgesprächen und Gruppenrunden schälen die Profis die Fähigkeiten jedes Jugendlichen heraus, legen den Kern frei und damit auch alle angefaulten Stellen. Dann geht der Feinschliff los. Die Bandbreite der Themen, die die vom Juwel beackern müssen, ist dabei unsagbar vielfältig.

Zarah Rebecca Herrmann zählt auf, dass sie so manchem erst einmal Körperhygiene beibringen musste, damit sich ein zukünftiger Chef überhaupt interessiert. Andere sind noch nie in ihrem Leben Bus gefahren und können sich auch gar nicht vorstellen, diese Herausforderung jemals zu meistern. Und manche können mit Geld so wenig umgehen, dass die Juwel-Mitarbeiter ihnen erst einmal zeigen müssen, wie man mit Hartz IV einen Monat lang leben kann.

„Wenn wir Assessment-Center trainiert haben, habe ich das immer gehasst“, erinnert sich Sarah. „Manche von meinen Freunden haben schon auch gesagt, dass die beim Juwel sehr streng sind. Aber für mich war das genau richtig.“

Auch Gina (18) hat eine Zeit voller Sorgen und Ungewissheit durchstehen müssen. Auch sie arbeitet nun als Auszubildende bei Rechtsanwalt Christian Vollheim. „Ich wollte früher immer Erzieherin werden“, erzählt sie, „aber das war dann doch nichts für mich.“ Also führte sie ihr Weg via Jobcenter zum Juwel. „Ich war oft den ganzen Tag da und habe Bewerbungen geschrieben. Wir haben alle nötigen Unterlagen zur Verfügung gestellt bekommen.“ Einfach war es nicht für sie. „Klar hängt man durch, wenn man keine Perspektive hat. Aber ich wollte nicht rumgammeln, ich wollte arbeiten! Ich wollte mein eigenes Geld verdienen.“

„Unsere Jugendlichen kämpfen oft damit, dass sie von der Gesellschaft stigmatisiert werden“, sagt Susan Hempel. Auch das Juwel ist nicht unumstritten. „Natürlich müssen wir Ergebnisse vorweisen, und manchmal werden wir schon gefragt, ob wir wirklich den ganzen Seelenballast auch noch mit aufräumen sollen. Aber die Erfahrung hat gezeigt: Manchmal ist langsam doch schneller.“ Schneller, weil nachhaltiger: Die Erfolgsquote betrug im vergangenen Jahr 52,2 Prozent – das ist fast doppelt so viel wie in anderen Maßnahmen. „Es gehört ein strammer politischer Wille dazu, eine solche ganzheitliche Maßnahme aufzubauen“, weiß Susan Hempel.

Wie so oft ist das Geld das Problem. Juwel kostet in diesem Jahr insgesamt rund 1,8 Millionen Euro, sagt Jochen Geißel, Geschäftsführer des Jobcenters Rhein-Lahn. Ohne die Fördermittel wäre das von den Trägern nicht zu stemmen. „Warum leisten wir uns Juwel? Weil wir diese Inhalte nicht billiger bekommen“, sagt Geißel. Und vom Konzept sind die Träger nicht zuletzt wegen der hohen Erfolgsquote überzeugt. Doch Jahr für Jahr müssen die Fördergelder neu bewilligt werden – „deshalb können wir nicht sagen, dass das Juwel gesichert ist“.

Zum Erfolg tragen aber nicht zuletzt auch die Arbeitgeber bei. „Wir brauchen Chefs, die auch mal Praktikanten von uns nehmen und die uns dann Feedback geben, was es noch zu verbessern gibt“, sagt Zarah Rebecca Herrmann. „Wir erleben aber auch, dass Arbeitgeber die jungen Leute überfordern und unmögliche Dinge verlangen oder – im Gegenteil – ihnen gar nichts zutrauen und sie unterfordern.“ Wie auch immer: Im Ergebnis kommen die Jugendlichen zurück zum Juwel, und die Jobsuche beginnt von vorn. „Wenn Jugendliche wieder zu uns zurückkommen, dann können wir sofort weitermachen, wo wir aufgehört haben“, sagt Zarah Rebecca Herrmann. „Das Gute ist, dass sie dann nicht erst in ein Loch fallen.“

„Ich weiß noch, was das für ein Wahnsinnsgefühl war, als ich meinen Ausbildungsvertrag unterschrieben habe“, sagt Gina und lacht. „Von meinem ersten Lohn habe ich ich mir ein Nature-One-Ticket gekauft.“

Hilfe für Jugendliche

Landesförderung Das Arbeitsministerium des Landes fördert 36 Projekte, die sich an junge Menschen richten. Die Jobcenter beteiligen sich zum Teil finanziell. Neben Projekten für arbeitslose Jugendliche werden auch Projekte gefördert, die Jugendliche in der Schule bei der Berufsorientierung unterstützen oder während einer Ausbildung begleiten, um Ausbildungsabbrüche zu verhindern. „Fit für den Job“ ist ein Förderansatz, der eine intensive Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen ermöglicht, um sie individuell und praxisnah zu qualifizieren. An diesen Projekten nehmen im Jahr 2016 insgesamt 2817 Jugendliche teil. Für Projekte, die sich an Jugendliche richten, gelten folgende Erfolgsquoten: 70 Prozent der Teilnehmenden nehmen erfolgreich an dem Projekt teil, und 40 Prozent der Teilnehmenden beginnen eine schulische oder berufliche Bildungsmaßnahme.