Experten: Altenpflege ist bedroht

Ohne Ausbildungsreform steht laut Verband Berufszweig des Altenpflegers vor dem Aus. 
Ohne Ausbildungsreform steht laut Verband Berufszweig des Altenpflegers vor dem Aus.  Foto: Kzenon - Fotolia

Seit ihrer Gründung am Anfang des Jahres muss sich die deutschlandweit erste Pflegekammer in Rheinland-Pfalz gegen massive Kritik wehren. Etliche Mitglieder sperren sich gegen Zwangsbeiträge und sprechen der Vertretung der rund 40 000 Pflegekräfte im Land die demokratische Legitimation ab. Im Interview mit unserer Zeitung antworten der Präsident der Kammer, Dr. Markus Mai, und Vizepräsidentin Sandra Postel den Kritikern.

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Sie betonen, dass die Kammer kein „zahnloser Tiger“ ist, wie es ihre Gegner behaupten. Stattdessen holen die Kammerchefs selbst zur Attacke aus und greifen Teile der Union im Bundestag scharf an, die sich gegen die geplante Vereinheitlichung der Pflegeausbildung stemmen. Besonders scharf schießen beide gegen den pflegepolitischen Sprecher der Union, den Neuwieder CDU-Bundestagsabgeordneten Erwin Rüddel. „Er betreibt eine klare Klientelpolitik für die unternehmerische Altenpflege“, wirft Mai dem CDU-Politiker vor:

Die Kritik an der Pflegekammer reißt nicht ab. Man hat Ihnen jüngst in Idar-Oberstein wieder vorgeworfen, ein „zahnloser Tiger“ zu sein. Was entgegnen Sie Kritikern?

Postel: Ich war selbst bei der Veranstaltung dabei. Wir nehmen jede Einladung an, wenn Pflegende oder eine Einrichtung Fragen hat. Die Veranstaltung in Idar-Oberstein war aber eine besondere. Nicht zuletzt auf Facebook wurde dafür gesorgt, dass sich vor allem Kritiker der Pflegekammer hier in großer Zahl gesammelt haben. Ich habe noch nie eine Veranstaltung in dieser aufgeheizten Form erlebt. Meist kommen zwischen drei und 50 Personen. In Idar-Oberstein waren es 100. Es hat mich gewundert, auf so viele Kritiker zu stoßen, weil wir als Kammer dort sehr gut vertreten und aufgestellt sind. Wir sind einzelnen Vorwürfen auch nachgegangen. Für mich zeigt diese Veranstaltung: Wir müssen weiter informieren, auch weil viele Fehlinformationen gestreut wurden.

Es gibt ja eine Diskrepanz: Einerseits treten Sie als Fürsprecher der Pflegekräfte auf. Andererseits sagen viele Ihrer Mitglieder: Da passiert etwas, worauf ich keinen Einfluss habe, und dann muss ich auch noch dafür zahlen. Man spricht Ihnen die demokratische Legitimation ab. Was sagen Sie dazu?

Mai: Es gab eine Abstimmung im Jahr 2013, von der wir die Pflegekräfte auch über die Einrichtungen informiert haben, da wir die Mitarbeiter noch gar nicht erfasst hatten. 9000 von den insgesamt 40 000 Pflegekräften haben sich gemeldet. Davon haben 7500 abgestimmt, 75 Prozent waren für die Einrichtung einer Pflegekammer. Aber rein theoretisch hätten 40 000 Pflegekräfte abstimmen können. Dann hatten wir 2015 eine Wahl zur 81-köpfigen Vertreterversammlung. Bis zum 12. Oktober konnte jedes registrierte Mitglied teilnehmen. Und wir haben sie mehrfach angeschrieben und darüber informiert, dass nur registrierte Mitglieder ein Wahlrecht haben. Bis zum Stichtag hatten sich 25 813 Kollegen registriert. Damit konnte sich deutlich mehr als die Hälfte der Mitglieder an der Wahl beteiligen. Schließlich haben 11 500 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.

Stellen wir uns vor, nur 25 Prozent der Wahlberechtigten würden sich an einer Bundestagswahl beteiligen. Würde Sie eine solche Wahl für legitim erachten? Ist das nicht ein großer stiller Protest?

Mai: Es hätte ja auch die Möglichkeit gegeben, einen Wahlzettel abzuschicken, ohne eine Stimme abzugeben. Das wäre für mich ein legitimer Protest, wo sich jemand positioniert hat. Das haben wir aber nicht erlebt. Tatsächlich haben 45 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder abgestimmt. Wir gehen daher davon aus, dass wir als Kammer ein Mandat haben.

Postel: Wir hatten im Vorfeld der Wahl 250 Veranstaltungen durchgeführt. Mittlerweile ist die Zahl auf fast 1000 gestiegen. Es gibt eine Bring- und Holschuld – bei uns, aber auch bei unseren Kritikern.

Mai: Wir fokussieren uns zu stark auf eine Gruppe, die zwar nicht so klein, aber auch nicht überragend groß ist. Ich habe noch keine Veranstaltung erlebt, wo wir die Kritiker nicht vom Gegenteil überzeugt haben. Die Not in der Pflege vereint uns doch alle. Wir können sie nicht von heute auf morgen beseitigen, aber wir können eine starke Stimme für die Pflege, eine kraftvolle Macht im Gesundheitswesen sein. Das ist unser Ziel: dass wir uns für die Pflege und letztlich für die Sicherstellung der Versorgung einsetzen. Diesem Argument können selbst die schärfsten Kritiker nichts entgegensetzen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der Kammerbeitrag, der zwischen 30 und 300 Euro gestaffelt ist. Die Rede ist unter Kritikern von Drohbriefen, wer sich nicht registriert oder nicht zahlt. In Idar-Oberstein war von einer Pflegekraft im Mutterschutz zu hören, die schließlich zwangseingestuft worden, und zwar in die Höchststufe ...

Mai: Es gibt eine Beitragsordnung, die im Juni an alle Mitglieder verschickt wurde. Alle mussten sich bis Mitte September bei der Kammer melden, um ihre Beitragsklasse zu benennen. Jene, die sich bis dahin nicht gemeldet haben, bekamen noch mal einen Beitragsbrief mit dem Hinweis, sich bei uns zu melden – mit dem Hinweis auf mögliche Konsequenzen. Man sollte auch mal darauf hinweisen, dass es ein System der freiwilligen Selbsteinstufung ist. Wir verlangen keinen Einkommensnachweis, sondern vertrauen den Mitgliedern. Bis heute ist kein Brief herausgegangen, in dem eine Veranlagung auf den Höchstbeitrag erfolgt ist. Das wird irgendwann passieren müssen, wenn sich Mitglieder nicht an Regeln halten.

Die SPD-Abgeordnete Kathrin Anklam-Trapp hat davon gesprochen, dass sich die Pflegekammer noch „im Babyalter“ befindet. Wann wird die Kammer erwachsen?

Mai: Wir wissen von der Psychotherapeutenkammer, dass dieser Prozess zehn Jahre gedauert hat. Dann war bei Psychotherapeuten das Bewusstsein gewachsen, ihre Kammer dafür nutzen zu wollen, um ihren Beruf weiterzuentwickeln. Trotzdem werden wir die Kammer schon jetzt dazu nutzen, um politisch etwas zu bewirken.

Postel: Wir haben eine Verpflichtung gegenüber unseren Mitgliedern, mit Ergebnissen zu überzeugen.

Was haben Sie nach etwas mehr als zehn Monaten vorzuweisen?

Postel: Die Sehnsucht nach schnellen Lösungen kann ich gut verstehen. Zugleich kann ich gut aushalten, dass das Brett dick ist, das wir bohren. Im ersten Schritt haben wir doch schon eine Menge erreicht: Das erste Mal in Deutschland und in Rheinland-Pfalz hat die Pflege eine Vertretung in allen relevanten Landesausschüssen, zum Beispiel für die Landeskrankenhausplanung. Wir haben die Möglichkeit, als Stimme gehört zu werden.

Dann lassen Sie uns über ein Ergebnis sprechen, das Sie anstreben: die generalistische Pflegeausbildung. Laut dem CDU-Bundestagsabgeordneten Erwin Rüddel stößt die Reform in der Union auf große Bedenken, weil sie zulasten der Altenpflege gehe. Stimmt das?

Mai: Es ist genau umgekehrt. Wenn diese Reform nicht kommt, wird dies zulasten der Altenpfleger gehen. Es wäre der Sargnagel für die Altenpflege. Denn diese wird ohnehin schon bald schlechter gestellt, weil Kranken- und Kinderkrankenpflege qua europäischem Recht aufgewertet werden müssen. Der Gesetzgeber muss beide Berufe noch in dieser Legislaturperiode finanziell aufwerten – nicht aber die Altenpflege, da sie im europäischen Kontext völlig uninteressant ist. Das heißt, der Abstand zwischen Alten- und Krankenpflege wird ohnehin größer. Daher würde die Altenpflege ohne Reform noch mehr verlieren. Das wäre katastrophal. Viele Altenpfleger glauben, dass man ihnen ihren Beruf durch die generalistische Pflegeausbildung nehmen will.

Das ist nicht der Fall?

Mai: Nein. Ihre Arbeitgeber haben sie schlecht informiert. Vielmehr entsteht durch die Reform eine völlig neue Philosophie des Berufs, der enorm gestärkt wird. Die Pflege wird endlich ähnlich professionell aufgestellt wie in anderen Ländern. Und man muss wissen: Rüddel hat in seiner Biografie ganz klar eine Verortung in der unternehmerischen Altenpflege. Er argumentiert also aus der Perspektive der privaten Arbeitgeber. Und das zeigt, wer tatsächlich gegen die Reform ist: der Arbeitgeberverband Pflege und der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste.

Sie werfen Rüddel also eine Interessenvermischung vor?

Mai: Natürlich. Er war bis zum Jahr 2010 Geschäftsführer einer privaten Seniorenresidenz in Hessen. Das zeigt: Er betreibt eine klare Klientelpolitik für die unternehmerische Altenpflege.

Rüddel beruft sich auf ein Gutachten des Bundesbildungsministeriums, wonach die Altenpflege in Ländern gelitten hat, in denen die generalistische Pflegeausbildung eingeführt worden ist.

Mai: Das ist Blödsinn. Es gab in vielen dieser Länder nie eine eigenständige Altenpflege.

Postel: Ich habe an einer wissenschaftlichen Untersuchung mitgearbeitet, bei der es darum ging, die Folgen der Einführung der generalistischen Ausbildung abzuschätzen. Die Debatte über die Generalistik gibt es seit mehr als zehn Jahren. Es ist erstaunlich, dass es bei einem eher überschaubaren Thema so leicht ist, zehn Jahre Gutachten und Evaluation zu ignorieren. Der Grund ist für mich, dass die Lobbyisten des Arbeitgeberlagers in Deutschland sehr stark sind.

Aber nicht nur die Union, auch die Grünen und die Interessenverbände der Kinderkrankenpflege sind gegen die Reform, weil sie eine Spezialisierung der Pflege beende.

Postel: Der Verband der Kinderkliniken ist gegen die Reform – und damit die Kinderärzte. Der Verband der Kinderkrankenpflege ist für die Generalistik. Warum? Weil die Kinderkrankenpflege in allen anderen EU-Ländern eine Spezialisierung ist, die man nicht in drei Jahren erreichen kann, sondern eine Weiterbildung darstellt. Es entspricht nicht mehr der Realität, dass wir Kinder, Kranke oder Alte pflegen. Die Wirklichkeit ist so: Wir haben in der stationären Altenpflege zum Teil sehr kranke, alte Menschen, die viel medizinisch-pflegerische neben der sozialpflegerischen Versorgung brauchen.

Das heißt: Wir brauchen Generalisten, weil die Pflegebedürftigen vielschichtige Probleme haben?

Postel: Richtig. Unser ältestes Mukoviszidose-Kind ist 63 Jahre alt. Solange wir in diesen Sparten denken, bilden wir nicht das Kompetenzfeld ab, was wir für die Pflegesituationen brauchen.

Aber besteht nicht die Gefahr, dass ein Jugendlicher sich während der generalistischen Ausbildung eher gegen die Altenpflege entscheidet, weil diese schlechter bezahlt wird?

Postel: Nein. Jetzt nimmt man ihm die Chance, sich in allen Pflegebereichen Kompetenzen zu erwerben. Mit der Generalistik wird interner Wettbewerb stattfinden. Wir haben einen Fachkräftemangel. Doch anders als etwa in der Industrie führt dieser Mangel in der Pflege nicht dazu, dass die Mitarbeiter besser bezahlt werden. Warum nicht? Weil wir in der Pflege immer noch davon ausgehen, dass wir das für Gottes Lohn tun. Wenn die Generalistik nicht kommt, wird der Pflegenotstand eher prekärer. Das wollen die renditeorientierten Arbeitgeber einfach nicht wahrhaben. Dann holen sie lieber billige Arbeitskräfte aus China, um das System so zu stabilisieren. Deren Ziel ist es, die Kosten niedrig zu halten, um weiter hohe Gewinne einzustreichen.

Mai: Es geht nur um Gewinne. Das ist zum gewissen Grad in Ordnung. Doch wenn die Gewinne ein gewisses Maß überschreiten und dies zulasten der Beschäftigten geht, ist das nicht in Ordnung. Unsere Mitglieder pflegen mit hoher Kompetenz. Doch der Lohn ist vor allem im Verhältnis zur Krankenpflege nicht angemessen. Die Differenz beträgt teilweise 500 bis 600 Euro netto.

Das heißt, Sie argumentieren, dass ich als Altenpfleger künftig auch in der Krankenpflege arbeiten kann?

Mai: Ja. Wir reden bei einer Berufslebenszeit von 40 bis 45 Jahren von drei bis vier Jahren Ausbildungszeit, die künftig zunächst generalistisch ablaufen soll, wo dann aber in einem zweiten Schritt eine Spezialisierung folgen soll – mit der Chance des lebenslangen Lernens. Dann kann eine Pflegekraft ihre Spezialisierung auch noch mal ändern. Deshalb haben die Arbeitgeber durch die Reform auch Chancen. Ein Auszubildender wird viel mehr Stationen durchlaufen und die Möglichkeiten bei unterschiedlichen Arbeitgebern sehen. Ein Arbeitgeber, der gute Bedingungen anbietet, wird auch Fachkräfte bekommen. Doch wenn alles wie jetzt bleibt, dann sind die Pflegekräfte nicht breit qualifiziert und können weiter ausgenutzt werden.

Postel: Das werfen wir renditeorientierten Pflegeunternehmen vor. Es gibt gute, private Arbeitgeber, die neue Wege suchen und unter dem derzeitigen System leiden.

Sie versuchen, die bessere Bezahlung über den Umweg der Generalistik zu erreichen, auch weil Sie als Pflegekammer nicht über Gehälter verhandeln können. Stecken Sie da nicht in der Zwickmühle?

Mai: Die Mehrzahl der Kollegen will neben mehr Geld vor allem bessere Arbeitsbedingungen. Viele haben die Sorge, dass sie nicht bis zur Rente in dem Beruf arbeiten können. Sie befürchten, dass sie wegen des löchrigen Systems der Berufsunfähigkeit irgendwann auf Hartz IV angewiesen sind. Wir wollen keinen Umweg. Wir sagen: Es ist der einzig vernünftige Weg, den Beruf professionell aufzustellen. Wenn wir gute Leistungen erbringen, können wir von der Gesellschaft auch verlangen, dass sie uns dafür besser bezahlt.

Das Gespräch führte Christian Kunst