Hoden umgedreht: Hells-Angels-Präsident erhebt schwere Foltervorwürfe gegen Polizei

Präsident der Hells Angels erhebt schwere Foltervorwürfe gegen ein Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei.
Präsident der Hells Angels erhebt schwere Foltervorwürfe gegen ein Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei. Foto: dpa

Sie sollen auf seinen Kopf gesprungen sein, seine Kleidung weggerissen, seine Hoden umgedreht haben: Karl-Heinz B. (50), Präsident der Hells Angels Bonn, erhebt schwere Foltervorwürfe gegen ein Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei.

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Der Rockerchef erschoss 2010 in seinem Haus im Westerwaldort Anhausen (Kreis Neuwied) einen Elitepolizisten – seither behauptet er, dessen Kollegen hätten ihn misshandelt. Erstmals 2011 im Mordprozess, später in Interviews und Presseartikeln, zuletzt 2016 in einem Buch. Er schildert einen Skandal, der in der rheinland-pfälzischen Geschichte einzigartig wäre – aber vielleicht nur erfunden ist.

Recherchen unserer Zeitung haben ergeben: B. sprach zwar seit 2010 mit ausgewählten Journalisten – aber nie mit Richtern und Staatsanwälten. Er war nie bereit auszusagen. Nie bereit, seine Vorwürfe zu konkretisieren und kritische Fragen zu beantworten. Er tat alles, um seine Vorwürfe publik zu machen. Aber nichts, um sie überprüfen zu lassen und die angeblichen Folterer vor Gericht zu bringen. Es ging ihm offenbar nicht um die Wahrheit: Er wollte seine Wahrheit verbreiten.

Warum? Das bleibt unklar. B. ignorierte einen Brief unserer Zeitung. Und seine Anwälte erklärten, er sei zu keinem Gespräch bereit. Er sitzt seit gut eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft, steht seit Januar 2016 vor dem Landgericht Koblenz. Laut Anklage ist er Präsident einer kriminellen Vereinigung, führte mit fünf mitangeklagten Rockern einen Krieg gegen die Outlaws Ahrweiler, ließ Rivalen verprügeln, bedrohen und erpressen.

Der spektakuläre Freispruch

B.s Foltervorwürfe wiegen schwer, weil es zumindest möglich wäre, dass Polizisten nach dem Tod eines Kollegen überreagieren und auf Rache sinnen. Und weil bereits das Androhen von Folter eine gravierende Straftat ist. Das zeigt der Fall Wolfgang Daschner: Der Vizechef der Frankfurter Polizei ließ 2002 dem Entführer Magnus Gäfgen Schmerzen androhen, damit er den Aufenthaltsort seines Opfers preisgibt. Der Fall wurde mehrfach verfilmt, jahrelang hitzig debattiert.

Der Todesschuss von Anhausen sorgte bundesweit für Entsetzen. B. feuerte durch seine geschlossene Haustür, ohne gesichert zu wissen, wer dahinter stirbt. Und er wurde nie dafür bestraft. Das Landgericht Koblenz verurteilte ihn zwar wegen Totschlag zu achteinhalb Jahren Haft. Aber der Bundesgerichtshof (BGH) sprach ihn frei (Az.: 2 StR 375/11). Er wertete den Schuss als „Putativnotwehr“, da B. irrtümlich von einem Angriff der Bandidos-Rocker ausgegangen war.

Seither gilt B. in Teilen der Landesregierung als eine Art Staatsfeind, mit dem man eine Rechnung offen hat. Innenminister Karl Peter Bruch (SPD) erwog 2010 ein Verbot der Hells Angels Bonn. Nachfolger Roger Lewentz (SPD) initiierte es 2016, Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) setzte es durch.

„Sie rissen mir die
Kleidung vom Leib
und begannen, mir
die Hoden umzudrehen. Und traten mir in die Weichteile. [...] Ich weiß jetzt, was Folter ist.“

Justizkenner schildern einen Zweikampf. Auf der einen Seite Rockerchef Karl-Heinz „Kalli“ B. Ein Karatekämpfer mit Stiernacken und Highlandermähne. Der laut BGH eine rechtsfeindliche Gesinnung hat, mit Hang zur Selbstjustiz. Der sich nach dem Freispruch erneut bewaffnete, illegal eine scharfe Pistole kaufte und in seiner Jacke versteckte. Der sich laut den Eltern eines Outlaws als „Polizistenmörder“ vorstellte – dies aber bestreitet.

Auf der anderen Seite der Koblenzer Oberstaatsanwalt Walter Schmengler (61). Ein Mann mit Schnauzer und leicht gebücktem Gang. Ein streitbarer Jurist, der regelmäßig gegen Rocker und politische Extremisten ermittelt.

Schmengler sitzt B. zum zweiten Mal am Landgericht Koblenz gegenüber. Im Mordprozess 2011 verglich er dessen Todesschuss mit einer Hinrichtung und forderte zwölf Jahre Haft für ihn. Im aktuellen Prozess verlangt er sechs Jahre und neun Monate Haft, da B. seinen Kumpanen mehrfach befohlen haben soll, Gewalttaten zu verüben und Schusswaffen mitzuführen.

Zu Prozessbeginn am 20. Januar stellte Schmengler die Ermittlungen wegen B.s Foltervorwürfen ein. Das Verfahren 2091 UJs 5114/11 wegen Körperverletzung im Amt lief „gegen unbekannt“, dümpelte fünf Jahre dahin, umfasste 88 Seiten – und blieb ergebnislos. Schmengler ermittelte später gegen B. wegen falscher Verdächtigung, stellte aber auch dieses Verfahren ein.

Alles begann am Morgen des 17. März 2010: Um 6 Uhr umstellen zehn SEK-Polizisten B.s Haus in Anhausen. Sie wollen die Haustür aufbrechen und Beweise sicherstellen, da der Rocker eine Prostituierte bedroht haben soll. Er gilt als gewaltbereit und verfügt – damals legal – über Schusswaffen.

Der Tod des Polizisten

Was dann passiert, fasst das Landgericht später so zusammen: Oberkommissar Manuel K. (42) macht sich an der Haustür zu schaffen. B. schläft im ersten Stock, wird von seiner Verlobten geweckt, hört Geräusche, glaubt an einen Überfall der Bandidos-Rocker, lädt seine Pistole, läuft ins Erdgeschoss und sieht durch zwei kleine Fenster in der Haustür die Umrisse einer Person. Er ruft: „Verpisst euch!“ Die Polizisten hören nichts und brechen weiter die Tür auf. B. fürchtet um sein Leben. Er rechnet damit, beschossen zu werden, wenn die Tür aufgeht. Darum gibt er zwei Schüsse auf die Tür ab, „die der Bewegung der Person folgten, die sich an der Tür zu schaffen machte“. Er nimmt „in Kauf, dass ein Mensch tödlich getroffen werden könnte“. Der erste Schuss geht fehl, der zweite trifft K. in die Brust – links, wo sein Schutzpanzer unter dem Arm geöffnet ist. Er verblutet.

Die SEK-Beamten kommen ins Haus. Was dann geschieht, ist strittig. Im Mordprozess 2011 lässt B. seinen Anwalt nach Auskunft der Staatsanwaltschaft nur erklären: Ein SEK-Beamter quetschte seine Genitalien und zog daran.

Genauer schildert er seine Vorwürfe 2013 im Klubhaus der Hells Angels Bonn. Er sitzt im Kaminzimmer, führt ein Videointerview mit Hells-Angels-Sprecher Rudolf „Django“ Triller und sagt: „Es fing an mit Schläge und Tritte ohne Ende in die Nieren. Später hab ich erfahren, dass man sich einnässt. Das wird gern fotografiert, um behaupten zu können, das Opfer des SEK hätte sich vor Angst bepisst. Das hat bei mir aber nicht funktioniert.“ – „Mit der Folge?“ – „Sie wickelten mir Handtücher um den Hals und ums Gesicht und begannen auf den Kopf zu springen. Die Handtücher verhindern Stiefelabdrücke. Das hat ihnen noch nicht gereicht. Sie rissen mir die Kleidung vom Leib und begannen, mir die Hoden umzudrehen. Und traten mir in die Weichteile. Das Ganze dauerte circa 40 Minuten.“ – „Wie hast du das erlebt?“ – „Ich weiß jetzt, was Folter ist.“

Wenn es so ablief, war es Folter. Gemäß der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen meint der Begriff „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel (...), um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr (...) begangene Tat zu bestrafen (...), wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes (...) verursacht werden“.

Die „Propaganda“ der Hells Angels

Mitte 2016 sitzt Oberstaatsanwalt Schmengler im Justizzentrum in der Koblenzer Innenstadt und schimpft über das Videointerview: „Das war Propaganda der Hells Angels!“ Seine Stimme grollt, sein Blick ist finster. Schmengler, der Leitende Oberstaatsanwalt Harald Kruse und Pressesprecher Rolf Wissen erklären im Gespräch mit unserer Zeitung zwei Stunden lang, warum das Folterverfahren eingestellt wurde. Sie nennen fünf Gründe:

Erstens, weil die SEK-Beamten die Vorwürfe bestreiten. Sie sagen, sie haben B. durchsucht, entkleidet, gefesselt, ein Handtuch über den Kopf gelegt und abgeführt.

Zweitens, weil der Gewaltexzess, den B. im Videointerview schildert, nicht mit dessen eher leichten Verletzungen vereinbar ist, die bei seiner Aufnahme im Gefängnis festgestellt wurden. Im Anhausen-Urteil heißt es, B. wurde bei seiner Festnahme verletzt: „Er erlitt ein blaues Auge sowie ein kleines Hämatom an seinem Geschlechtsteil.“

Drittens, weil B. nicht bereit war, seine Aussage aus dem Mordprozess zu konkretisieren. Man könne ihn dazu nicht zwingen, habe aber 2011 und 2013 einen Termin vereinbart, an dem er von einem Richter und einem Staatsanwalt vernommen werden sollte. 2011 schwieg B., 2013 sagte sein Anwalt ab.

Viertens, weil der Rockerchef sich widerspricht. Im Mordprozess berichtete er von einem Täter und einer kurzen Tat – im Videointerview spricht er von mehreren Tätern und einem 40-minütigen Exzess.

Fünftens, weil B. nicht 40 Minuten lang mit dem SEK allein war.

„Wir wollten Karl-Heinz B. zu seinen Vorwürfen gegen die SEK-Beamten richterlich vernehmen lassen. Aber dazu war er nicht bereit.“

Der Leitende Oberstaatsanwalt Kruse sagt, dass B. die Widersprüche möglicherweise hätte auflösen können: „Aber nur in einer Vernehmung. Darauf bestehen wir!“ Denn in einer Vernehmung sei B. zur Wahrheit verpflichtet – nicht aber in einem Videointerview oder einem Gespräch mit der Presse.

Tatsächlich nahm B. es mit der Wahrheit nicht immer genau. Zwar schilderte er seine Vorwürfe 2012 und 2015 ähnlich – im Artikel der „Zeit“-Journalistin Sabine Rückert und auf der DVD zum Kinofilm „Ein Hells Angel unter Brüdern“.

Aber es gibt Widersprüche. Ein Beispiel: „Stern“-Reporter Kuno Kruse traf sich mit B. und gab 2016 mit dem Stuttgarter Hells-Angels- Chef Lutz Schelhorn das Buch „Jagd auf die Rocker“ heraus. Darin behauptet er, in Anhausen hätten die SEK-Beamten den Staatsanwalt aus dem Haus geschickt, das Radio laut aufgedreht und B. gedroht: „Jetzt wirst du das Fürchten lernen.“ Einer habe ihm „schwere Blutergüsse an den Hoden“ zugefügt: „Der Polizist dreht den Hodensack in seiner Hand, drückt immer fester, zieht am Penis. Nicht eine Minute. Nicht fünf Minuten. Es dauert eine halbe Stunde.“

Die „schweren Blutergüsse“ widersprechen dem Anhausen-Urteil, die Details des Foltervorwurfs dem Artikel des Journalisten Dominic Röltgen. Auch er sprach mit B., ließ ein Tonband mitlaufen und zitierte ihn 2013 in der Zeitschrift „eigentümlich frei“: „Ich habe dann circa eine halbe Stunde lang von Beamten des SEK eine Tracht Prügel bekommen.“ Und: „Ganz zum Schluss haben sie mich dann komplett ausgezogen, und einer hat mir dann die Hoden umgedreht.“

Mal wurde B. verprügelt, mal an den Hoden misshandelt. Beides soll je eine halbe Stunde gedauert haben – aber der ganze Übergriff laut Videointerview nur 40 Minuten. Das ist schwer vereinbar, aber B. ficht das nicht an. „Stern“-Reporter Kruse berichtet auf Nachfrage, B. habe seinen Artikel gelobt. Journalist Röltgen schildert, die Hells Angels hätten seinen Text vor Erscheinen gelesen und genehmigt.

Was bleibt, ist ein Verdacht

Wenn B. die Widersprüche in seinen Vorwürfen hätte auflösen wollen, hätte er aussagen müssen. Das tat er nicht – erweckte aber im Videointerview den Eindruck, dies unbedingt zu wollen. Hells-Angels-Sprecher Triller kündigt darin mit erhobenem Finger an: „Wir werden dafür sorgen, dass dieser Vorfall bekannt wird und es auch bleibt. Damit keine Behörde es schafft, die Sache klammheimlich einzustellen.“ Aber warum sagte B. nicht aus? Das erklärt Triller heute so: „Mit diesem Oberstaatsanwalt hätte er null Chancen auf ein faires Verfahren.“

Der Todesschuss von Anhausen bedeutete für niemanden einen Karriereknick. B. war 2010 Sicherheitschef der Hells Angels und stieg zu deren Präsident auf. Der Chef des SEK, Karlheinz Maron, leitet heute die rheinland-pfälzische Bereitschaftspolizei. Horst Hund, der als Leitender Oberstaatsanwalt die Verantwortung für den SEK-Einsatz übernahm, ist heute Abteilungsleiter im Justizministerium in Mainz.

Rockerchef B. profitierte durch seinen Freispruch maximal vom Rechtsstaat, überhäufte dessen Vertreter aber mit ehrverletzenden Vorwürfen – und tat nichts für deren juristische Aufarbeitung. Sie sind inzwischen verjährt, werden wohl nie aufgeklärt, aber an künftige Rockergenerationen überliefert.

Was bleibt, ist der Verdacht, dass B. seine Vorwürfe nie überprüfen lassen wollte. Weil er den Nimbus des gefolterten Rockerchefs genießt. Und weil er das Feindbild des bösen Polizisten pflegen will.

Hartmut Wagner