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SPD-Kanzlerkandidat Schulz im Porträt: Martin der Große

Martin Schulz begeistert die SPD. Warum eigentlich? Drei Perspektiven.

Lesezeit: 7 Minuten
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Es gibt da diese eine Szene aus dem Europaparlament, eine Videosequenz, gerade mal fünf Minuten lang, die Marvin Schäfer davon überzeugt hat, dass Martin Schulz ein guter Kanzler für Deutschland wäre. Er hat sie auf YouTube gesehen, lange bevor Schulz Kandidat der SPD wurde. Die Szene stammt aus dem März 2016 und zeigt Schulz, wie er, der damalige Präsident des Parlaments, einen griechischen Abgeordneten aus dem Saal wirft. Der Abgeordnete ist Politiker bei der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte und hat in einer Debatte Türken als „geistige Barbaren, gottesverachtend, Schwindler und schmutzig“ bezeichnet.

Unser Politikredakteur Johannes Bebermeier hat mit drei Genossen aus dem Land lange über ein Phänomen gesprochen: Warum begeistert ein Martin Schulz die SPD?

„Mit mir nicht“, ruft Schulz den Abgeordneten zu, unterbindet jeden Widerspruch und lässt den Mann vom Saaldiener rausführen. Einige Gesinnungsgenossen des Griechen springen auf, applaudieren demonstrativ, brüllen Unverständliches in den Saal. Schulz sagt: „Wenn Sie sich nicht beruhigen, kriegen Sie ein Beruhigungsmittel.“ Paff. Ende der Diskussion.

Marvin Schäfer, 21 Jahre alt, hat dieses Video beeindruckt. Ihn hat beeindruckt, dass Schulz den Mut dafür aufbringe, vor so vielen Leuten seinen Mann zu stehen, dass er sich durchsetze, trotz der Widerstände, trotz des Protestes. „Er macht halt einfach einen sicheren Eindruck“, sagt Marvin Schäfer. Etwas Sicherheit in Zeiten der Unsicherheit. Als er im Radio hört, dass Schulz Kanzlerkandidat der SPD wird, entscheidet er sich, der Partei beizutreten. So wie rund 500 Menschen in Rheinland-Pfalz und mehr als 10.000 in ganz Deutschland, sagt die SPD.

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In der Zeitrechnung der SPD gibt es eine Ära vor und eine nach dem 24. Januar, dem Tag, an dem Martin Schulz plötzlich zum Kanzlerkandidaten Martin Schulz wurde. Wenn der SPD vorher jemand gesagt hätte, dass sie sich Hoffnungen machen kann, den nächsten Kanzler zu stellen – sie hätte es selbst nicht geglaubt. Die SPD als Volkspartei zu bezeichnen, galt schon als verwegen. „Sankt Martin“ titelt der „Spiegel“ in seiner ersten Ausgabe nach der Nominierung unter einem Bild von Martin Schulz mit Heiligenschein. „Merkeldämmerung – Kippt sie?“ zwei Wochen später. Im Internet werden Fotomontagen herumgereicht, die Schulz als Messias zeigen, als Kaiser, Terminator, Muskelprotz. Mit jeder neuen Meinungsumfrage scheint die Euphorie zu wachsen. Zwei Institute sehen die SPD derzeit vor der Union, bei einem sind sie gleichauf, bei allen sehr nah beieinander. Mehr als 10 Prozentpunkte hat die SPD seit dem 24. Januar zugelegt.

Was finden die Menschen an Schulz?

Marvin Schäfer
Marvin Schäfer
Foto: Johannes Beberme
Marvin Schäfer hat einen Job und zwei kleine Töchter. Er lebt in Weißenthurm im Kreis Mayen-Koblenz seit er vier ist, hat dort die Grundschule besucht und die Realschule plus. Nach der mittleren Reife absolvierte er eine Ausbildung zum Metallbauer, weil er Metall mag und gern etwas macht, das er sich nachher angucken und stolz drauf sein kann. Jetzt baut er Treppen, Türen, Fenster, Geländer und Zäune aus Metall für eine Firma in Andernach.

Marvin Schäfer geht es gut in Weißenthurm, seiner Heimat, wie er sagt, wo er in der Freiwilligen Feuerwehr ist und die Menschen auf der Straße kennt. Politik hat er bisher eher aus der Ferne verfolgt, und wirklich kritische Worte über Angela Merkels Politik kommen ihm auch nicht über die Lippen. Hat der junge Vater vielleicht Wünsche in der Familienpolitik? „Nee, alles gut.“ Wirtschaft? „Hat sich gut entwickelt.“ Und so insgesamt? „Ich war sehr zufrieden mit Merkels Politik.“ Nur bei den Flüchtlingen, da sind Fehler gemacht worden, findet er. Klar, das sei menschlich, aber Merkel habe zu lange gebraucht, diese Fehler einzugestehen. Natürlich muss man den Menschen helfen, findet Marvin Schäfer. „Aber die Situation wurde von Anfang an schlecht gemanagt.“

Foto: Reddit
Von Schulz erhofft er sich, dass das ein bisschen geordneter läuft. Er erhofft sich, dass Schulz auch den anderen Menschen in Deutschland hilft, die Hilfe brauchen, dass er das eigene Volk nicht vergisst, zum Beispiel etwas gegen die Arbeitslosigkeit tut. Und er erhofft sich, dass sich ein starker Kanzler Schulz Leuten wie Donald Trump mutig entgegenstellt, anders als Merkel, die er oft zu unsicher findet, wie eine nervöse Bewerberin beim Vorstellungsgespräch.

Marvin Schäfer scheint es nicht weiter zu kümmern, dass Schulz bisher kaum etwas Konkretes zu seinem politischen Programm gesagt hat, wie dessen Kritiker ihm vorwerfen. Ihn kümmert nicht, dass sie ihn einen Populisten nennen, einen Dampfplauderer, dass sie ihn sogar mit Donald Trump vergleichen.

Es gibt viele, die so denken wie Marvin Schäfer, die der SPD beigetreten sind, einfach weil sie Schulz gut finden. Rund 40 Prozent der Neumitglieder sind nicht mal 35 Jahre alt.

Aber die SPD, das sind auch Menschen wie Willi Klein.

Willi Klein
Willi Klein
Foto: Tobias Lui
Als Willi Klein in die SPD eintritt, ist er ebenfalls gerade mal 35 Jahre alt. Allerdings ist das schon 57 Jahre her, es war 1960, ein Jahr bevor Willy Brandt, der Säulenheilige der SPD, zum ersten Mal als Kanzlerkandidat antrat. Willi Kleins Helden heißen jedoch Ernst Dänzer, Willi Rasel und Willi Fuchs, Sozialdemokraten in seiner Heimat Lahnstein, die er bewundert und die ihn überzeugen, in die Partei einzutreten und für den Stadtrat zu kandidieren. Heute ist Willi Klein 92 Jahre alt, war 20 Jahre lang ehrenamtlicher Bürgermeister Lahnsteins, und ist seit vergangenem Jahr Ehrenbürger seiner Stadt. In seiner Zeit wurde viel gebaut, erzählt er, Schulen, Straßen und Kindergärten. Er hat sich um die großen und kleinen Probleme seiner Bürger gekümmert. Ein Vollblutlokalpolitiker.
Gerhard Schröder hatte schon recht, manchmal ist ein Basta nötig.

Willi Klein erzählt gern von früher, auf dem Küchentisch in seiner Wohnung hat er dann einen Hefter liegen, aus dem er immer wieder Dokumente zieht, einige mehr, andere weniger vergilbt. Dankesbriefe, die ihm wichtig sind, glorreiche Ergebnisse von Stadtratswahlen, aber auch juristische Streitigkeiten, gegen die er sich wehren musste. Was vermisst jemand wie er heute in der Politik? „Eigenverantwortung zu übernehmen, das fehlt heute bei vielen“, sagt er. Willi Klein erzählt davon, wie er einst umstrittene Hochwasserschutzwände durchgeboxt hat, indem er im skeptischen Bauausschuss deren Höhe nicht thematisierte. Oder von einer erkämpften Baugenehmigung für ein Chemieunternehmen, das sonst abgewandert wäre. Es hört sich nach harten Bandagen an. Seinen Gegnern sagte er regelmäßig: „Stellt doch einen Misstrauensantrag, ich bekomme mein Geld von der Bundesbahn.“ Seinem früheren Arbeitgeber. „Ein Schlitzohr mitten im Leben“ überschrieb unsere Zeitung einmal einen Artikel zu seiner Ehrenbürgerschaft. Willi Klein sagt: „Gerhard Schröder hatte schon recht, manchmal ist ein Basta nötig.“

Unbequeme Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, auch mal Schlitzohr sein – das traut er Schulz offensichtlich zu. Er hält ihn für den richtigen Kandidaten. „Martin Schulz hat die Möglichkeit, Europa zusammenzuführen. Damit es kein Bund wird, bei dem niemand Verantwortung übernimmt und jeder nur auf den eigenen Vorteil aus ist.“ Das sagt Willi Klein, 92 Jahre alt, der mit 18 selbst freiwillig in die Wehrmacht eintrat, um dann miterleben zu müssen, wie sie Europa und die Welt in Brand steckte.

In einigen der vielen Texte, die jetzt zum Phänomen Schulz erscheinen, wird betont, dass der neue Starkult ungewöhnlich für die SPD sei, dass die Partei sonst immer von ihrem Programm, von ihren Inhalten gelebt habe. Das ist nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Denn was war denn Willy Brandt für die SPD, wenn nicht ein Star? Der Parteienforscher Franz Walter schreibt von religiöser Stimmung in den Jahren der Kanzlerschaft von 1969 bis 1974. Ein säkularisierter Heiland sei er für viele gewesen, ein Friedensstifter und Völkerverbrüderer.

So weit ist es bei Schulz natürlich längst noch nicht, auch wenn die SPD das vielleicht gern hätte. Aber gibt es Parallelen?

Ansichten des Büroleiters von Willy Brandt

Kaum jemand kann das so gut beurteilen wie Klaus-Henning Rosen. Mächtige Bücherwände prägen das Arbeitszimmer in seinem Haus in Rheinbreitbach im Kreis Neuwied. Literatur über Brandt füllt mehrere Regalbretter, eines davon ist beschriftet mit „Eigene Texte“. Er stand Brandt nahe, von 1974 bis 1989 war er der Leiter des Persönlichen Büros des Altbundeskanzlers.

Doch zunächst machte Klaus-Henning Rosen nach der Schule eine Lehre bei Siemens, studierte Jura und arbeitete kurz als Richter in Freiburg und Staatsanwalt in Stuttgart, um dann in verschiedene Positionen in mehreren Ministerien zu wechseln, zunächst im Land, dann im Bund. In die SPD trat er ein, als gerade die Studenten auf die Straßen gingen, als sie die Hochschulen reformieren wollten und mit ihnen die junge Bundesrepublik. Er war einer der jungen Wilden, die damals in die SPD kamen.

Heute ist Klaus-Henning Rosen 78 Jahre alt, und wenn man ihn fragt, was ihn an Brandt begeistert hat, das er nun auch bei Schulz beobachtet, spricht er viel über Werte, über Gradlinigkeit und über Europa. „Wofür brauchen wir eine SPD?“, fragt er dann, um sich seine Antwort selbst zu geben: „Das hat sich seit dem 19. Jahrhundert nicht verändert, es ist der Kampf gegen soziale Ungleichheit, die nach wie vor da ist.“ Schulz knüpfe daran an, sagt er, und zieht einen aktuellen SPD-Mitgliederbrief aus einem Papierstapel: „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ steht dort geschrieben. Brandt, der in Zeiten des Kalten Krieges eine neue Ostpolitik unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ etablierte, würde heute auch ganz anders als Merkel für die Europäische Union kämpfen, glaubt er. „Er hätte nach dem Brexit eine Grundsatzrede zu Europa gehalten.“ Schulz, dem früheren Präsidenten des Europaparlaments, dem „Mister Europa“, traut er diesen Einsatz auch zu.

Wie früher Brandt, stehe Schulz heute für Wandel, für Richtungswechsel. Heute wie damals treten deshalb viele junge Menschen in die Partei ein, glaubt er. Und am Ende, Programm hin, Inhalte her, geht es ohnehin weniger um die Details, da ist sich Klaus-Henning Rosen sicher, sondern um die Schwerpunkte, die Schlagwörter. Und eben um den Kandidaten als Person. „Der Mensch macht mehr als 50 Prozent aus.“ Früher, heute.

Politologe: SPD muss Ruhe bewahren

Rheinland-Pfalz. Martin Schulz und die SPD schweben derzeit im siebten Umfragehimmel. Prof. Thorsten Faas, Wahlforscher von der Universität Mainz, spricht im Interview über die Gründe – und die Fallstricke im Wahlkampf.

Wie bewerten Sie die Umfrageergebnisse der SPD aus den vergangenen Wochen?

Martin Schulz erzeugt offenkundig eine gute Stimmung in der SPD und bei ihren Anhängern. Die ständigen neuen Umfragen bestätigen dann selbst auch immer wieder aufs Neue, dass die Stimmung tatsächlich gut ist. Das zusammen erzeugt ein Momentum, das sich durch die Umfragen weiter verstärkt. Schulz hat außerdem nach seiner Nominierung zwei Wochen gehabt, in denen er ohne Gegenwind gefeiert wurde. Das war für die SPD und ihn eine sehr wertvolle Zeit.

Die Werte für die SPD stiegen schon lange bevor Schulz langsam anfing, sich inhaltlich zu positionieren. Wie viel machen Sympathie und Zutrauen zu einer bestimmten Person beim Kampf ums Kanzleramt aus?

Wir lernen gerade mal wieder, wie unglaublich wichtig – gerade in diesen unsicheren Zeiten – der Faktor Glaubwürdigkeit ist. Das dürfte nämlich auch der größte Unterschied zwischen Sigmar Gabriel und Martin Schulz sein.

Wenn Sie die SPD im Wahlkampf strategisch begleiten müssten: Was würden Sie ihr jetzt raten?

Sie muss sich darauf einstellen, dass die Umfragewerte auch wieder sinken werden. Spätestens dann heißt es: Ruhe bewahren, nicht in Panik verfallen. Denn die Werte gerade jetzt zeigen ja durchaus: Vieles ist möglich.

Die Fragen stellte Johannes Bebermeier

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