Verletzte Soldaten in Afghanistan: Die 112 der Bundeswehr

Hauptfeldwebel Dominik Netzer wurde bei seinem Einsatz in <br />Afghanistan schwer verwundet. Von der Rettungsleitstelle der Bundeswehr in der Koblenzer <br />Falckensteinkaserne aus wurde sein Rücktransport nach Deutschland koordiniert. Für solche Noteinsätze steht rund um die Uhr ein umgebauter Airbus bereit, der Medevac – eine Art Intensivstation in der Luft.<br /><br />
Hauptfeldwebel Dominik Netzer wurde bei seinem Einsatz in
Afghanistan schwer verwundet. Von der Rettungsleitstelle der Bundeswehr in der Koblenzer
Falckensteinkaserne aus wurde sein Rücktransport nach Deutschland koordiniert. Für solche Noteinsätze steht rund um die Uhr ein umgebauter Airbus bereit, der Medevac – eine Art Intensivstation in der Luft.

Foto: Christoph Bröder

2010 wird Dominik Netzer in Afghanistan schwer verwundet. Nur wenig später läuft die Rettungskette der Bundeswehr an. Und in Koblenz laufen alle Fäden zusammen. Die Leitstelle koordiniert den Transport in die Heimat – in einem umgebauten Airbus.

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Von Dirk Eberz

Der 15. April 2010 beginnt unheilvoll. Seit Stunden liegt die Patrouille von Dominik Netzer unter Raketenbeschuss. Und langsam schießen sich die Taliban auf die Marschkolonne ein. Die Einschläge kommen näher. Rechts und links der staubigen Straße bei Baghlan im Norden Afghanistans explodieren die Geschosse. Todesangst. 14.30 Uhr Ortszeit. Der Hauptfeldwebel befindet sich in der Nähe eines „Eagle“, als das leicht gepanzerte Fahrzeug kurz vor einer Brücke in eine Sprengfalle gerät und von der Wucht der Detonation in Stücke gerissen wird. „Ich habe den Knall nicht gehört“, erinnert sich der heute 38-Jährige. „Ich sah plötzlich nur noch Schwarz-Weiß. Wie früher beim Testbild im Fernsehen.“

Netzer wird gut 15 Meter weit durch die Luft geschleudert, schlägt mit dem Rücken auf, verliert das Bewusstsein. Der Sanitäter erleidet schwere Verletzungen im Gesicht, Frakturen an beiden Handgelenken und ein Knalltrauma. Schrapnellsplitter haben sich in seine Beine gebohrt. Vor allem aber ist eine Arterie im Arm durchtrennt worden. Netzer droht zu verbluten. Als er kurz zu sich kommt, spürt er keinen Schmerz. „Ich hatte nur einen schrecklichen, metallischen Geschmack im Mund.“ Blut. „Ansonsten empfand ich eine wohlige Wärme.“ Der Schwerverletzte ist auf einer Wiese gelandet. Ein amerikanischer Soldat drückt ihm irgendetwas ins Gesicht. „Dann gingen bei mir die Lampen aus.“

Im mehr als 5000 Kilometer entfernten Koblenz laufen schon kurze Zeit später die Drähte heiß. PECC? Nur wenige Bundeswehrsoldaten haben je vom Patient Evacuation Coordination Center gehört, das sich hinter einer Sicherheitsschleuse in Stockwerk zwei von Gebäude 14 der Falckensteinkaserne verbirgt. Auch Netzer nicht. In der weltweiten Rettungsleitstelle der Bundeswehr geht an diesem schicksalhaften Apriltag die Meldung ein: Patrouille in Afghanistan in einen Hinterhalt geraten. Mehrere Tote und Verletzte. Es ist einer der schwersten Anschläge auf deutsche Soldaten überhaupt. Jetzt läuft die Rettungskette wie ein Uhrwerk an. Stabsfeldwebel Paul Krämer hat damals Dienst. Der Disponent bestellt Blutkonserven, zieht Bundeswehrärzte und Rettungskräfte aus ganz Deutschland zusammen. Später werden den Bundeswehrkrankenhäusern Befunde der Verletzten zugeschickt. „Die kommen verschlüsselt per E-Mail – aus Datenschutzgründen“, erklärt Oberfeldarzt Dr. Jörg Michael Körner, Krämers Chef. Ein enormer logistischer Aufwand. Rund um die Uhr steht auf dem Flugplatz Köln-Wahn ein umgebauter Airbus zum Abflug bereit. Der Medevac. Hinzu kommt eine Transall auf Abruf – 24 Stunden pro Tag. Jetzt wird die Crew der Airbusmaschine alarmiert. Sobald die Verletzten transportfähig sind, sollen sie nach Deutschland ausgeflogen werden.

Netzer hat keine weiteren Erinnerungen an diesen Tag, der sein Leben von einer Sekunde auf die andere verändern wird. US-Soldaten übernehmen die Erstversorgung, wie er später erfährt, binden den Arm ab. Dann folgt ein deutsches Team. „Auf Auslandseinsätzen ist bei jeder größeren Patrouille ein Arzt dabei“, sagt Oberstleutnant Matthias Frank vom Pressezentrum des Sanitätsdienstes der Bundeswehr in Koblenz. Das rettet Leben. „Wir gefährden damit aber natürlich auch unser Personal.“ Auch Netzer. Der Sanitäter wird mit einem US-Kampfhubschrauber vom Typ „Black Hawk“ ins Lazarett nach Kundus ausgeflogen. Dort wird er operiert. Dann geht's weiter ins Lazarett des deutschen Stützpunkts Mazar-e Sharif. Hier wacht Netzer zwei Tage später auf und erfährt, dass drei der Kameraden, mit denen er noch kurz vor der Explosion geredet hat, bei dem Anschlag ihr Leben verloren haben. Andere sind verwundet. Manche schwer. Ein schwerer Schock. Weit schlimmer als die eigenen Blessuren. „Sie mussten mich ruhigstellen.“

Ein, zwei Tage wird damals in den Medien über den Anschlag berichtet. Dann verschwindet das Thema wieder aus den Schlagzeilen. In der Heimat wird stattdessen weiter eifrig darüber diskutiert, ob Deutschland nun im Krieg ist oder eher nicht? Für die Bundeswehr ist das eine eher akademische Frage. Fakt ist: Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sterben wieder deutsche Soldaten. Jahr für Jahr. Vor allem in Afghanistan. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Und viele kehren verwundet in die Heimat zurück. Oder seelisch krank. Dutzende sind für ihr Leben gezeichnet.

Wie viele es genau sind, weiß auch PECC-Chef Dr. Körner nicht. Nur so viel: Fast 10 000 Patienten sind seit 2003 aus Einsatzgebieten weltweit ausgeflogen worden. Hunderte mit dem Vermerk „urgent“ – akute Notfälle. Opfer von Anschlägen, Minenopfer. „Aber auch Herzinfarkte, Lungenembolien oder Blinddarmentzündungen“, so Körner.

Der Oberfeldarzt führt uns in die Leitstelle. Ein unscheinbarer Raum. 30 Quadratmeter Funktionalität. Schreibtische mit Computern. „Die wichtigsten Arbeitsgeräte sind Telefon und Fax“, sagt Körner. An der Wand hängt eine große Tafel, auf die sie mit Eddingstiften die Daten zu laufenden Einsätzen eingetragen haben. Fast ein wenig nostalgisch. Heute ist es ruhig. Das Telefon schweigt. Doch das wird erfahrungsgemäß nicht so bleiben innerhalb der 24-Stunden-Schicht, die jeder Disponent schiebt. Ausgebildete Rettungsassistenten. Gut 300 Einsätze sind im abgelaufenen Jahr aus Koblenz koordiniert worden. Nicht selten mehrere pro Tag. „Notfälle sollen innerhalb von zwölf Stunden ausgeflogen werden“, sagt Körner. „Das ist weltweit einzigartig.“ Da schwingt Stolz mit. Kostet allerdings viel Geld.

Ein befriedigender Job. Aber auch belastend. Besonders für die Rettungskräfte. Denn hinter vielen Fällen stehen erschütternde Schicksale. „Das sind schlimme Bilder“, betont Körner. Verstümmelte Körper nach Sprengstoffanschlägen etwa. Splitterverletzungen. Manchmal muss auch amputiert werden. Eindrücke, die Ärzte und Sanitäter nie mehr vergessen. Durch die Detonationen werden die Lungen der Opfer oft schwer verletzt. Andere atmen die Gifte der Explosionswolken ein. „Ein Soldat ist mehr als ein Jahr nach einem Anschlag daran gestorben“, erinnert sich Oberstleutnant Matthias Frank. „Daran kann man sich nicht gewöhnen.“

Im Notfall wird der komplette Airbus für einen einzigen Verwundeten aktiviert. „Eine Art Intensivstation in der Luft“, erklärt Körner. Bis zu 44 Soldaten können darin transportiert werden. Theoretisch. Für Schwerverletzte stehen sechs Intensivplätze zur Verfügung. Mit Beatmungsschläuchen und jeder Menge medizinischen Geräten. Auch um Netzer herum blinkt und piept es, als er auf dem Weg nach Istanbul im Medevac zu sich kommt. „Wir lagen dort zu fünft“, erinnert er sich. Seinen Nachbarn hat es noch weitaus schlimmer erwischt: schwere Schädelverletzung. „Wir sind aber super betreut worden“, sagt er. Auch in Istanbul, wo sie wegen der Aschewolke aus Island tagelang feststecken. Im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz schließt sich der Kreis. Schon wenig später wird er entlassen.

Solche Katastropheneinsätze sind eher selten. Bei 80 Prozent der Flüge handelt es sich um Routinefälle. Was aber nicht bedeutet, dass der Aufwand geringer ist. „Da stellt uns besonders die Marine vor große Herausforderungen“, sagt Körner. Denn die kreuzt bekanntlich auf allen Weltmeeren. Körner erinnert sich an einen Krankheitsfall auf einer Fregatte, die im Südatlantik unterwegs war. Ein Riesenaufwand. „Die Zahl der deutschen Patienten ist glücklicherweise zuletzt deutlich zurückgegangen“, sagt Körner, der für die Zukunft allerdings weit weniger optimistisch ist. Denn bald geht's für die Deutschen auch in den hart umkämpften Norden Malis. „Die Bedrohungslage wird größer.“

Netzer ist längst wieder im Dienst. Bleibende Schäden hat er nicht davongetragen. Keine zwei Jahre später geht er wieder auf Auslandseinsatz. Warum? „Ich kann mir nicht immer die Rosinen rauspicken“, sagt er. „Ich habe gewusst, worauf ich mich einlasse.“ Noch immer träumt er ab und zu von jenem 15. April 2010. Der Sprengfalle. Dem Hinterhalt. Aber es fällt ihm leicht, darüber zu reden. Andere Opfer des Anschlags schweigen, grübeln. Sie hat das Trauma nicht losgelassen. Bis heute nicht.

Auslandseinsätze

Seit 1992 hat die Bundeswehr auf Auslandseinsätzen insgesamt 106 Todesfälle zu beklagen. Davon starben 37 durch Fremdeinwirkung, 69 aufgrund anderer Umstände, die vom Verteidigungsministerium nicht näher erläutert werden. Besonders hoch war die Zahl der Toten in Afghanistan. 56 Bundeswehrangehörige haben allein hier ihr Leben verloren. Dabei stiegen die Opferzahlen vor allem in den Jahren zwischen 2008 und 2011 deutlich an. Im Kosovo gab es 19 Tote zu beklagen, in Bosnien und Herzegowina waren es 19. Weitere 22 deutsche Soldaten haben sich in diesem Zeitraum während ihrer Auslandsaufenthalte das Leben genommen. Die Verwundeten werden in keiner Statistik gesondert erfasst, wie das Verteidigungsministerium mitteilt. Derzeit befinden sich knapp 3000 deutsche Soldaten in Auslandseinsätzen.