Kastellaun

Musikkultur auf elektronische Art erleben: Nature-One-Gemeinschaft feiert kollektiven Rausch

Von Melanie Schröder
Große Namen der Elekto-Szene heißen rund 56.000 Fans auf der Nature One ein: mit dabei Above & Beyond, Sven Väth, Paul van Dyk und Ferry Corsten. Foto: I-Motion
Große Namen der Elekto-Szene heißen rund 56.000 Fans auf der Nature One ein: mit dabei Above & Beyond, Sven Väth, Paul van Dyk und Ferry Corsten. Foto: I-Motion

Das erste Gefühl ist Atemnot. Das zweite sind gelähmte Glieder. Je tiefer man in den Nebel schleicht, desto aufsässiger werden die Schmetterlinge im Bauch. Nicht nur weil bruchfeste Bässe einem in die Magengrube schlagen, auch weil man all die Ängstlichen vor den Toren dieser Hölle zurückgelassen hat. Sollen sie weiter lauern, weil das Trommelfell schon da draußen blutet, aber die Verlockung so groß ist. Man selbst wächst bereits über sich hinaus. Mitten in diesem Bunker, der gerade so breit ist, dass man ein Rad schlagen könnte, wird die Welt nicht kleiner, sie wird gesprengt: Hier hört man Musik nicht, man wird Musik.

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Monotonie ist eine Waffe

Links, zwo, drei, vier; links, zwo, drei, vier – der Takt, der die Massen auf 23 Floors auf der Nature One steuert, folgt diesem Muster. Ja, das ist monoton und gerade deswegen effektiv. Die gebetsmühlenartige Wiederholung der grundlegend gleichen Prinzipien entgrenzt. Sie dirigiert rund 56.000 Elektrofans durch die Bunker, auf die Hügel, vor die großen Bühnen auf der Raketenbasis Pdyna. Sie nimmt einem die Last und Aufgabe, Musik analytisch zu durchdringen.

Verkopfte Zugänge wie diese werden das Phänomen elektronischer Tanzmusik (EDM) nicht entschlüsseln. Denn was sich auch während der 23. Auflage des Traditionsfestivals am Wochenende im Hunsrück abspielt, ist größer als das. Es ist Rausch. Es ist extreme Körperlichkeit. Es ist Gemeinschaft. Und Drogen? Sicherlich, natürlich. Sie sind systemimmanent. Die Geschichte der Technokultur, der Raves ist ohne Trips nicht denkbar. Sie intensivieren das Erlebnis und die Verbundenheit mit den anderen, sie machen einen selbst, machen alles leicht, lassen einen die Farben der bombastischen Lichtshows schmecken, glaubt man Foreneinträgen im Netz. Wer einmal so gefeiert hat, der wird nie wieder anders können, heißt es da. Auch weil Grundbedürfnisse nichtig werden. Da gibt es keine Erschöpfung, keine müden Körper, nur ein Optimum des Möglichen. Auch auf der Nature sind einige Muskelbepackte im auffälligen Turboschritt unterwegs, verstecken viele ihre Augen wenn die Nacht am tiefsten ist hinter Sonnenbrillen. Da tanzt einer versunken mit einem Pappkarton, da starrt ein anderer auf einen Teufelsstab, der zum Jonglieren benutzt wird, dreht und wendet ihn in Zeitlupe wenige Zentimeter vor seinen Augen. Nicht nur für ihn steht an diesem Wochenende auf der Raketenbasis das Tor in eine andere Bewusstseinsdimension weit offen.

Rausch ist hier aber auch ganz anders erfahrbar – etwa ganz simpel als lärmendes Grundrauschen. Links, zwo, drei, vier von allen Seiten. Jahrmarkt für die Sinne. Bass und Beat stimulieren im Akkord. Die physische Präsenz der Musik ist enorm. Sie lenkt, sie führt die Massen nahezu mechanisch. Immer wieder brechen Menschen für Sekunden auf ihren Wegen abseits der eigentlichen Partyzonen aus. Kein Bier wird geholt, keine Bühne gewechselt ohne dass Körper für Momente eruptieren. Dieser Automatismus steckt an, auf der Tanzfläche wird er zur quasi göttlichen Weisung – entsandt durch mehr als 350 DJ-Jünger auf Erden. Die körperliche Nähe ist fassbar. Mit aller Konsequenz. Man riecht die anderen, man fühlt die anderen und riecht und fühlt am Ende doch nur sich selbst. Denn Individuen werden mit der Mechanik elektronischer Musik obsolet.

Kollektiv trotzt der Gegenwart

Der Kollektivgedanke trägt. Der lohnendste Weg sich angenehm und ohne anzuecken in der Masse zu bewegen, besteht manchmal einfach darin, in ihrem Rhythmus aufzugehen. Man springt, man shuffelt, man wackelt als geschlossene Gesellschaft. Und doch funktioniert der Gesellschaftstanz nicht ohne Vereinzelung: Die Fans richten sich zu den DJs aus, nicht zueinander. Der Kollektivgedanke trägt nicht in letzter Konsequenz – vielleicht auch nur in der Größenordnung eines Festivals. Die Idee der einander zugewandten Gemeinschaft, die für eine Dauer von drei Tagen und Nächten, der Individualisierung und Anonymisierung der Gegenwart trotzt, bleibt vage.

Was für viele aber wesentlich wichtiger sein dürfte: die Auflösung im Augenblick, der Bruch mit zeitlichen und räumlichen Dimensionen. Ob versunken in Nebelwolken oder unter Beschuss im Laserhagel und Stroboskop-Gewitter, das Prinzip Elektro lässt einen selbst schrumpfen und den Exzess toben. So lässt sich das Motto dieses Jahres, „We call it Home“ (Wir nennen es zu Hause), auch als übergeordnete Weisung verstehen: Zu Hause ist nicht nur die Nature One an diesem Ort und an diesem Wochenende, zu Hause ist vielmehr, wo der Rausch regiert. Zu Hause ist Musik, die einen beben lässt.

Von unserer Redakteurin Melanie Schröder