Berlin

Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs: Was wir aus 1918 lernen können

Fake News sind keine Erfindung von US-Präsident Donald Trump. Die Dolchstoßlegende lastet schon vor 100 Jahren als schwere Hypothek auf der jungen deutschen Republik, die aus der Trümmern des Kaiserreichs hervorgeht, und vergiftet das politische Klima. Damals finden die demokratischen Kräfte keine Antwort. Eine wichtige Lehre auch für die Gegenwart.
Fake News sind keine Erfindung von US-Präsident Donald Trump. Die Dolchstoßlegende lastet schon vor 100 Jahren als schwere Hypothek auf der jungen deutschen Republik, die aus der Trümmern des Kaiserreichs hervorgeht, und vergiftet das politische Klima. Damals finden die demokratischen Kräfte keine Antwort. Eine wichtige Lehre auch für die Gegenwart. Foto: Ekko von Schwichow

Vor 100 Jahren fallen die letzten Schüsse des Ersten Weltkriegs. Im November 1918 schweigen die Waffen. Das blutige Gemetzel von vier Jahren geht zu Ende. Es ist die Geburtsstunde der Weimarer Republik. Die deutsche Monarchie hingegen geht sang- und klanglos unter. Eine Zäsur, die bis heute nachwirkt. Im Schicksalsjahr 1918 werden Weichen gestellt – im Guten wie im Schlechten. Der Freiburger Professor Dr. Jörn Leonhard erklärt im Interview mit unserer Zeitung, was wir aus der Geschichte lernen können und warum eine direkte Linie vom Ersten Weltkrieg bis zum Konflikt im Nahen Osten führt.

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Der Nahe Osten war vor 100 Jahren nur ein Nebenkriegsschauplatz. Inwiefern wirkt der Erste Weltkrieg dort trotzdem nach?

In vielen Reden des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan oder arabischer Politiker wird immer wieder auf die neue, von den Siegern von 1918 durchgesetzte Ordnung hingewiesen. Auch der „Islamische Staat“ bezieht sich mit einem Plakat in der syrischen Wüste auf das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, in dem der Nahe Osten von Briten und Franzosen geteilt wird. Nach der Auflösung des Osmanischen Reichs sind in der Region in kolonialer Manier oft willkürlich neue Grenzen gezogen worden. Briten und Franzosen setzen dabei auf Gewalt, um ihre Herrschaft zu behaupten. Auch wegen der Ölreserven und dem strategisch wichtigen Suezkanal. Dass man den Arabern damals nicht den Staat gibt, den man ihnen für den Kampf gegen das Militär des Sultans versprochen hat, trägt zur Verbitterung bei. Gleichzeitig bereiten die Briten 1917 einen Staat für die Juden vor. Das schafft Probleme, die uns bis in die Gegenwart begleiten. Das führt im Nahen und Mittleren Osten zu einer Glaubwürdigkeitskrise der westlichen Demokratien.

Auch für die USA ist der Erste Weltkrieg ja eine außenpolitische Zäsur. Sie geben ihren Isolationismus auf und bauen später nach dem Zweiten Weltkrieg internationale Institutionen wie IWF und UN auf, um sie jetzt am liebsten wieder niederzureißen. Ziehen sich die USA unter Präsident Donald Trump wieder auf sich selbst zurück?

Ja, aber die USA sind nach 1917 auch keinesfalls immer Internationalisten. Präsident Woodrow Wilson gerät schon Ende 1918 innenpolitisch unter Druck, nachdem er die Kongresswahlen verloren hat. Dazu kommt nach 1918 eine Welle rassistischer Gewalt. Anfang der 1920er-Jahre bekommt der Ku-Klux-Klan nicht zufällig Hunderttausende neue Mitglieder. Auch die Immigrationsgesetze werden massiv verschärft. Das erinnert an „America First“. Insofern ist Trump gar nicht so einzigartig, wie wir heute häufig hören.

Prof. Jörn Leonhard
Prof. Jörn Leonhard
Foto: Ekko von Schwich

Auch Fake News gibt's ja schon vor 100 Jahren. Die bekannteste des Ersten Weltkriegs ist wohl die Dolchstoßlegende, nach der das siegreiche deutsche Heer angeblich aus dem Hinterhalt von Linken und Juden vernichtet worden sein soll. Eine dreiste Lüge, die die politische Kultur der Weimarer Republik vergiftet. Wiederholt sich das gerade auch unter Präsident Donald Trump?

Die Dolchstoßlegende ist deshalb so erfolgreich, weil sie einen Nerv trifft. Denn viele Deutsche verstehen nicht, warum der Krieg verloren sein soll. Gegen Russland hat man doch im Frühjahr 1918 gesiegt, und bis in den September 1918 erklärt die Propaganda immer wieder, dass Deutschland kurz vor einem Sieg stehe. Die Dolchstoßlegende der Rechtsnationalen füllt diese Deutungslücke und stigmatisiert die republiktreuen Parteien als „Novemberverbrecher“. Fake News hat es also schon immer gegeben. Neu ist die hohe Frequenz und die Wirkung der Neuen Medien. So verbreiten sich jedes ungeprüfte Gerücht und manipulierte Informationen als „Nachricht“ rasend schnell und drängt Printmedien und Öffentlich-Rechtliche in die Defensive. Die „New York Times“ zeigt aber auch, dass man Trumps Lügen dokumentieren und widerlegen kann und muss.

Eine weitere Parallele zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist der Aufstieg autoritärer Staaten. Damals waren es Italien und Deutschland. Heute sind es China und Russland, die für viele attraktiv erscheinen. Gerät das westliche Demokratiemodell unter Druck?

Wir leben jedenfalls in unruhigeren Zeiten. Es ist heute keinesfalls mehr ausgeschlossen, dass unsere Demokratien in einer tiefen Wirtschaftskrise einem echten Stresstest unterzogen werden. Demokratie ist eben keine Selbstverständlichkeit. Das zeigt auch ein Blick auf die Phase nach 1918. Denn die Fundamentalkrise von Demokratie und Kapitalismus in der großen Wirtschaftsdepression hat ja 1933 nicht nur zum Aufstieg Adolf Hitlers geführt, sondern auch zu den Wirtschafts- und Sozialreformen des Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Der New Deal hat die Demokratie in den USA stabilisiert und eine Antwort auf die Krise geboten. Es gibt also durchaus auch Selbstheilungskräfte. Demokratien sind lernfähiger als Autokratien und Diktaturen.

Zur Person

Jörn Leonhard zog 1970 mit seinen Eltern von Birkenfeld nach Darmstadt und studierte in Heidelberg Geschichte, politische Wissenschaft und Germanistik. 1998 wurde er in Heidelberg mit summa cum laude promoviert. Seit zwölf Jahren hat Leonhard als Professor an der Universität Freiburg den Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropas inne. Gerade ist im Verlag C. H. Beck sein neues Buch „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“ erschienen.

Darauf müssen wir wohl auch jetzt wieder hoffen. Trump, Brexit, Euro-Dauerkrise: Die Demokratie scheint auf einem Tiefpunkt. Vor 100 Jahren war der Erste Weltkrieg der Katalysator für die Verrohung der Gesellschaft und aggressiven Nationalismus. Warum gerät der Westen jetzt in Schieflage?

Mit 9/11 und dem islamistischen Terror seit 2001 sowie den Folgen der globalen Finanzkrise 2008 sind wir an einer Veränderungsschwelle angelangt. Wir sehen das Ende des amerikanischen Jahrhunderts und eine Phase der Renationalisierung, die mit einer starken Personalisierung von Politik verbunden ist. Neue Medien reagieren etwa auf jeden Tweet von Donald Trump in Echtzeit. Das macht es immer schwerer, mit Argumenten gegen manipulierte Informationen anzugehen. Dazu kommen noch die Folgen der Globalisierung, die Gewinner und Verlierer produziert hat. Viele Populisten und Nationalisten bieten dem Gefühl, abgehängt zu sein, ein Ventil.

Mit der Gründung der EU ist es gelungen, den Nationalismus zu überwinden und über mehr als sieben Jahrzehnte Frieden zu schaffen. Diese Leistung wird aber offenbar nur wenig gewürdigt. Besteht mit der Renationalisierung die Gefahr eines neuen Krieges?

Die Europäische Union, die ja maßgeblich aus der Erfahrung aus zwei Weltkriegen erwächst, ist das erfolgreichste Friedensprojekt der Neuzeit. Gerade jetzt muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass Europa von der Frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg ein Kriegsraum gewesen ist. Die Pazifizierungsleistung der EU zeigt sich nach 1945 bei der Überführung autoritärer Regime wie Spanien, Griechenland und Portugal in die Demokratie und noch einmal 1989/90 bei der friedlichen Liquidation des Kalten Krieges. Seither stößt das Modell aber an seine Grenzen, wie man in der Ukraine und im Nahen Osten sehen kann. Der zunehmende Nationalismus in vielen Staaten ist zwar besorgniserregend, aber er hat bislang nicht diese aggressiv-revisionistische Stoßrichtung wie im Europa der 1930er-Jahre. Bei allen Belastungen der EU: Eine Kriegsgefahr in Europa sehe ich nicht.

Aber hat die Fokussierung auf nationale Interessen nicht das Potenzial, die Europäische Union irgendwann zu sprengen?

Ich glaube, dass wir eher um die Frage streiten, was für eine EU wir künftig wollen. Trotz aller Skepsis finde ich Untergangsszenarien übertrieben, nach denen das Ende der EU vor der Tür steht. Gerade in den Kernstaaten Deutschland, Frankreich, aber auch in Benelux und in Skandinavien sehe ich das nicht. Ich erfahre an der Universität etwas anderes, nämlich Erasmusstudenten, die wie selbstverständlich quer durch Europa reisen. Dieser Generation werden sie diese Freiheit nicht mehr nehmen können. Sie weiß auch ganz konkret, was ihr dieses Europa bietet.

Sie haben den aggressiven Revisionismus der 1920er-Jahre angesprochen. Erleben wir dieses Muster nicht gerade in Putins Russland?

Zumindest in der Ukraine und auf der Krim kann man beobachten, wie sich ethnische Minderheiten von Russland instrumentalisieren lassen, um das eigene Vorgehen zu rechtfertigen, das einen Bruch des Völkerrechts bedeutet. Doch bei allen Konflikten, die wir in der Ukraine haben, gibt es dort immerhin noch Akteure, die miteinander kommunizieren – Stichwort Minsk-Abkommen. Das hat bislang einen Flächenbrand ethnischer Gewalt wie in vielen Regionen nach 1918 verhindert. Größere Sorgen bereitet mir der pazifisch-ostasiatische Raum, wo es keine Institution wie die EU oder die OSZE gibt. Dort lässt sich der chinesische Nationalismus, der auch revisionistische Elemente enthält, viel weniger eindämmen.

Wird China dem Westen irgendwann den Rang ablaufen?

Die chinesische Führung jedenfalls behauptet, dass Kapitalismus auch ohne demokratische Rechte erfolgreich funktioniert. Aber wir wissen nicht, ob das Modell nicht doch irgendwann an seine Grenzen stößt. Ich bleibe überzeugt davon, dass Demokratien langfristig lernfähiger und daher anpassungsfähiger sind als Autokratien und Diktaturen. Und damit bilden sie einen viel überzeugenderen Rahmen für Kreativität – in der Forschung, der Wirtschaft, der Kultur. Sehen Sie doch, wohin Patente und Nobelpreise gehen. Nehmen Sie die USA: Der Stresstest für eine funktionierende Demokratie ist doch, dass die Strukturen des Staates auch von einem, sagen wir, dysfunktionalen Präsidenten nicht so beschädigt werden können, dass das ganze System kollabiert.

Und wie sieht es mit Deutschland aus? Lange schienen wir weitgehend immun gegen Rechtspopulismus. Sind die Zeiten vorbei?

Mir geht der Dauerbrenner, wie weit wir in Deutschland schon wieder „Weimarer Verhältnisse“ haben, zu weit – als Historiker würde ich aber zugleich betonen, dass das auch mit den traumatischen Erfahrungen der Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun hat. Der Begriff der „German Angst“ ist nicht zufällig im Englischen fest etabliert. Wir erleben derzeit mehrere beunruhigende Umbrüche: in der Weltpolitik, in Europa, aber auch innenpolitisch durch die tektonische Verschiebung im Parteiensystem und dem Auftreten einer rechtsnational-populistischen Partei. Doch das ist kein „deutscher Sonderweg“ mehr wie zu anderen Zeiten des 20. Jahrhunderts. Denn Deutschland erlebt nun in vielerlei Hinsicht, womit andere Demokratien wie die Niederlande oder Schweden schon jahrelang leben müssen, ohne dass das System Schiffbruch erlitten hat. Der Umbruch ist bislang jedenfalls etwas anderes als die Staatskrise am Ende der 1920er-Jahre, als eine extreme ideologische, politische und soziale Polarisierung zu verzeichnen gewesen ist.

Das Interview führte Dirk Eberz

Warum der Erste Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt

Tote und Verwundete: Fast neun Millionen Soldaten und mehr als sechs Millionen Zivilisten sterben in dem vierjährigen Gemetzel. Deutschland zählt an den Fronten mehr als zwei Millionen Tote. Österreich-Ungarn verliert fast 1,5 Millionen Mann. Aufseiten der Kriegsgegner sterben insgesamt 5,3 Millionen Soldaten, unter ihnen 1,8 Millionen Russen und mehr als 1,3 Millionen Franzosen.

Hunger und Not: Die britische Seeblockade führt in Deutschland zu Lebensmittelmangel und Versorgungsproblemen bei Rohstoffen. Im berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 bricht die Versorgung mit Lebensmitteln zusammen. Etwa 700 000 Deutsche sterben an Unterernährung.

Zerfall der Imperien: Die Kaiserreiche Österreich-Ungarn, Deutschland und Russland brechen zusammen. Im Nahen und Mittleren Osten hat der Untergang des Osmanischen Reichs Folgen, die bis heute andauern. Die USA und die Sowjetunion steigen zu Weltmächten auf.

Gebietsverluste: Am Ende des Krieges büßt Deutschland ein Siebtel seines Territoriums und ein Zehntel der Bevölkerung ein: Elsass-Lothringen geht an Frankreich, Posen und Westpreußen an Polen, das Memelgebiet kam unter alliierte Kontrolle, Danzig wird dem Völkerbund unterstellt.

Kolonien: Die Sieger teilen die deutschen Kolonien unter sich auf, darunter Deutsch-Ostafrika (Tansania), Deutsch-Südwestafrika (Namibia) und Kamerun.

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