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Koblenz/Region

Weite Wege zum Job können krank machen: Psychische Belastungen durchs Pendeln

Von Thomas Brost
Pünktlich zum Feierabend füllen sich die Bahnsteige. Eine Studie der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland hat nun herausgefunden, dass Fernpendler einer höheren psychischen Belastung ausgesetzt sind. 
Pünktlich zum Feierabend füllen sich die Bahnsteige. Eine Studie der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland hat nun herausgefunden, dass Fernpendler einer höheren psychischen Belastung ausgesetzt sind.  Foto: Archiv Verena Hallerman

Berufspendler kennen dies: Ein Stau auf dem Weg zur Arbeit zerrt am Nervenkostüm – und bringt gleich das Blut in Wallung. Schaffe ich es rechtzeitig? Ein ähnliches Lied können diejenigen singen, die mit Bus und Bahn unterwegs sind. Kommen die „Öffentlichen“ pünktlich? Pendeln nervt. Und zwar immer mehr mit gravierenden Folgen, wie eine Analyse der Krankenkasse AOK Rheinland-Pfalz/Saarland ergeben hat: Je weiter ein Arbeitnehmer auspendelt, desto eher besteht die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken. Wie sehr macht Pendeln wirklich krank? Die RZ hat bei einem Psychologen, bei Firmen und Betroffenen nachgehakt.

Lesezeit: 3 Minuten
Für Martin O. (Name geändert) ist die Straße seit mehr als 30 Jahren quasi sein zweites Zuhause. Der Mann aus dem Raum Mayen hat in der produzierenden Industrie in Trier und Frankfurt gearbeitet. Jetzt arbeitet der Berufspendler im Raum Koblenz. Wie empfindet er die Belastung auf der Straße? „Das Aufkommen ...
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In die Mitarbeiter horchen, ohne sie auszuhorchen

Koblenz/Polch. So etwas wie böhmische Dörfer war bis vor vier Jahren das Thema betriebliches Gesundheitsmanagement bei den Lohner’s in Polch. Seither hat sich beim großen Backunternehmen mit 150 Filialen im Rheinland, darunter fünf in Koblenz und eine in Mülheim-Kärlich, viel getan. Es legt großen Wert darauf, etwas für die Mitarbeiter zu bewegen, damit sie nicht krank werden. „Das hat hier professionellen Charakter“, sagt Werner Blasweiler von der AOK und meint damit nicht nur die Tatsache, dass die Firmenleitung mit Milena Nimrich eine Frau eingestellt hat, die explizit für betriebliches Gesundheitsmanagement zuständig ist.

Wie geht Gesundheitsmanagement eigentlich? Am Anfang steht eine Befragung der Mitarbeiter: Was können Themen sein, die auf den Nägeln brennen? Gibt es Arbeitsplätze, die ergonomisch verbessert werden können? Und wie spricht man über psychische Belastungen und hilft sie zu vermeiden? Werner Blasweiler, der betriebliche Gesundheitsmanager der AOK, gibt einen inhaltlichen Anstoß, daraus hat Lohner ein vielschichtiges Schulungssystem entwickelt. „Wir spinnen auf der Ebene der Filialen einen roten Faden bis zur Basis“, sagt Helmut Moll, Geschäftsführer Vertrieb und Verwaltung in Polch. Und geht neue Wege. So gibt es sogenannte E-Learning-Tools, die praktische Übungen im Internet zeigen. „Das ist eine total innovative, tolle Idee“, sagt die zuständige Mitarbeiterin Milena Nimrich. Das kann ausgedehnt werden auf ein Mitarbeiterportal, in dem online Fotos und Videos, zum Beispiel von eigenen sportlichen Übungen, gezeigt werden. Auf dieser Plattform werden Fragen beantwortet, was zum Beispiel ergonomisch richtig oder falsch ist. Bis hin zu Tipps, wie gesunde Ernährung aussieht. Was Helmut Moll besonders freut, ist, dass die Mitarbeiter sich in diesem System „untereinander austauschen und aktiv mitarbeiten“. So hat das Programm „Fit im Büro“, in dem Bewegungsübungen dargestellt werden, regen Anklang gefunden.

Ein neuer Schwerpunkt ist die psychische Gesundheit. Es gibt, so Moll, aktuelle Fälle, in denen Mitarbeiter psychisch so belastet sind, dass sie krank wurden und ausfielen. Die Gründe sind vielschichtig, sie liegen oft sowohl im betrieblichen als auch im privaten Bereich. Bemerkenswert ist, dass die Lohner's Seminare und Schulungen anbieten, damit die Führungskräfte erkennen, wenn ein Mitarbeiter gravierende Sorgen mit sich herumträgt.

Die 14 Bereichsleiter und 150 Filialleiter sind sehr nahe an den Mitarbeitern dran, sie „merken sehr schnell, ob irgendwas schiefläuft“, so Moll. Wenn beispielsweise die Leistung pro Stunde viel zu hoch ist, muss die Belastung verringert werden. Moll: „Die Bereichsleiter sind angehalten, dann mehr Personal vorzuhalten.“

Proaktiv gehen die Leiter dann auf den Mitarbeiter zu, wenn dieser Signale von Überforderung zeigt, aber auch, wenn offensichtlich die Trauer nach einem Todesfall in der Familie nicht verarbeitet wird. „Wir führen dann ein bis zwei therapeutische Gespräche, damit der Mitarbeiter schnell wieder auf Kurs kommt“, betont AOK-Gesundheitsberater Blasweiler. Immer öfter im Fokus: das Thema Pendeln. „Eine besondere Belastung“, so Blasweiler, „weil man die Lebenswelt oftmals nicht mehr geregelt bekommt“. Die Lohner's versuchen ihr Personal so einzusetzen, dass sie nicht allzu weite Strecken fahren müssen. „Die Bereichsleiter wohnen im Gebiet, sie sollen nicht mehr als eine Stunde fahren müssen“, erläutert Milena Nimrich. Sie fahren im Schnitt zwischen 30.000 und 50.000 Kilometer im Jahr. Bei den Lohner's achtet man darauf, dass die Teams nicht weit reisen, unter Umständen werden bei Zusammenkünften schon mal Übernachtungsmöglichkeiten angeboten. Unterm Strich hat das betriebliche Gesundheitsmanagement gut angeschlagen, es ist sogar zertifiziert worden. Aktuell hat man Silber in der Tasche, aber jetzt strebt man nach Gold. Helmut Moll: „Wir haben, auch intuitiv, bisher immer die richtigen Wege gefunden.“

Von unserem Chefreporter Thomas Brost

Dr. Boris Mitric empfiehlt, dass sich Pendler in Mußestunden viel Zeit für ihre Entspannung nehmen sollen.
Dr. Boris Mitric empfiehlt, dass sich Pendler in Mußestunden viel Zeit für ihre Entspannung nehmen sollen.
Foto: GK Mittelrhein

Dr. Boris Mitric: “Langes Pendeln ist eine Zumutung"
Männer sind durch das weite Pendeln stärker gefährdet als Frauen. Sie setzen sich beruflich stärker unter Druck. Das sagt Dr. Boris Mitric, Leitender Oberarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein mit Standort in Boppard.

Hat langes Pendeln zum Berufsort einen Einfluss auf die Psyche?

Langes Pendeln ist in der Tat eine Zumutung – es ist aber der Preis, den man zahlt für eine hohe Qualifikation und steigendes Einkommen, also eine bessere Karriere. Der Einfluss auf die Psyche ist aus meiner Sicht von mehreren Faktoren abhängig. Zum Beispiel vom Arbeitsplatz: Habe ich dort genügend Gestaltungsmöglichkeiten? Es geht nicht um das Lustprinzip, sondern um die Sinnhaftigkeit von Arbeit. Aber unterm Strich sind es oft komplexe Lebenssituationen, die eine psychische Beeinträchtigung auslösen – das Pendeln allein ist es nicht.

Welche Auswege gibt es aus dem zu langen Pendeln. Oder ist dies aussichtslos?

Mehrere Möglichkeiten sind denkbar. Thema Homeoffice: Wer mehr von zu Hause aus arbeiten darf, setzt sich weniger unter Stress, wenn er zum Arbeitsplatz anreisen muss. Aber viele Arbeitgeber haben Angst, sie befürchten einen Dammbruch, wenn der Arbeitnehmer von zu Hause aus arbeitet. Das setzt Vertrauen voraus und die Antwort auf die Frage, ob der Arbeitnehmer gut durchstrukturiert ist. In dieser Frage muss noch viel Land gewonnen werden. Thema Jobticket: Wer zum Beispiel mit der Bahn fährt, fühlt sich anders. Und er kann in der Bahn auch sinnvoll die Fahrtzeit nutzen. Eine Studie aus Kanada kommt im Übrigen zum Schluss: Bahn- und Radfahren zum Arbeitsplatz sind weniger belastend, eine Fahrt in U-Bahn, mit Pkw oder Bus dagegen schon.

Wenn jemand mehr als 100 Kilometer hin und zurück pendelt und belastet ist, wie soll er wieder runterkommen?

Zunächst empfehle ich ihm, möglichst mit dem Zug zu fahren. Er kann dort lesen und etwas hören. In der Freizeit soll der gestresste Arbeitnehmer für mehr Ruhe sorgen, auch in der Familie. Er muss der Familie deutlich machen, dass er viel Zeit für sich braucht. Diese Sache soll offen auf den Tisch kommen. Die Form der Anerkennung vonseiten der Familie für die Leistung des Verdieners ist wichtig. In puncto körperlicher Ausgleich ist Sport wichtig, um Abstand zu bekommen. Am besten, man geht raus und macht etwas Festes, mit Termin. Es ist auch schön, alte Sachen wieder aufzugreifen, mal wieder zum Fußball zu gehen beispielsweise. Ein Augenmerk sollte auf die Kräftigung von Rücken und Wirbelsäule liegen.

Was glauben Sie: Gibt es eine größere gesundheitliche Gefahr für pendelnde Männer?

Männer pendeln tendenziell eher und weiter, sie sind gefährdeter. Auch weil sie gedrillt sind und sich stärker unter Druck setzen. Sie müssen aufpassen, dass sie ihre Selbstwertregulation nicht nur über den Job bekommen.

Bringen Entspannungstechniken Linderung?

Ja, sie bringen auf jeden Fall etwas. Stille ist für Pendler ganz wichtig. Wenn sie im Stau stehen bleiben müssen, können sie kurz innehalten. Sinnvoll ist es, Verfahren einzuüben, mit denen ich entspannen kann. Achtsamkeit ist empfehlenswert. Progressive Muskelentspannung und autogenes Training bewirken Entspannung.

Mit Dr. Boris Mitric sprach Thomas Brost

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