Gregor Gysi: Wir brauchen eine Partei links der SPD

Gregor Gysi
Gregor Gysi (Linke). Foto: Maurizio Gambarini/Archiv

Der Vorsitzende der Europäischen Linken und langjährige Bundestagsfraktionsvorsitzende Gregor Gysi geht mit der Russland-Politik des Westens hart ins Gericht: „Der Westen konnte nicht aufhören zu siegen.“ Im Interview spricht er auch über die umstrittene Fraktionschefin Sahra Wagenknecht und die Zukunft der deutschen Linken:

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Herr Gysi, wie schlecht ist es um das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau bestellt?

Schlecht. Deutschland und andere westliche Staaten machen denselben Fehler wie im Kalten Krieg: Sie sehen Russland als Feind. Es ist nicht zu glauben, aber sie haben immer noch nicht verstanden, dass es ohne Russland keine Sicherheit und keinen Frieden in Europa gibt. Wir fallen in die Zeit vor Michail Gorbatschow zurück. Der Westen versucht – angetrieben vom US-Präsidenten -, Russland wieder tot zu rüsten und damit wirtschaftlich kaputt zu machen. Das wird aber nicht gelingen, weil Moskau heute wirtschaftlich besser aufgestellt ist.

Sie sind ausgewiesener Russland-Versteher. Ist ihr Vertrauen in Präsident Wladimir Putin tatsächlich so groß, dass er sich an den INF-Vertrag mit den USA zum Verbot von landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen gehalten hat?

Ich mag Russland und muss aufpassen, dass ich nicht zu seinen Gunsten einseitige Urteile fälle. Im Übrigen ist aber mein Vertrauen in die Politik insgesamt begrenzt. Das gilt auch für Russland und die USA. Warum hat Donald Trump gleich die Kündigung des INF-Vertrags eingeleitet anstatt ein unabhängiges Expertenteam nach Russland zur Überprüfung zu schicken? Dann hätte Putin Farbe bekennen müssen. Trump erzwingt aber einen Kampf des Westens und der Nato gegen Russland, weil er von dem Verdacht ablenken will, er habe sich von Russland in seinem Wahlkampf helfen lassen. Und unser Außenminister macht mit.

Alle Schuld geht vom Westen aus?

Vor Jahren wurde übersehen, dass Putin Angebote zur Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik gemacht hat. Der Westen konnte aber nicht aufhören zu siegen – wie bei der Deutschen Einheit. Dann handelte auch Putin imperial. Er holte sich die Krim und ließ sich nicht mehr aus dem Nahen Osten verdrängen. Darauf hatte sich der Westen nicht eingestellt. Es gibt aber zumindest einen Menschen, der es hätte ahnen müssen: Angela Merkel. Sie wollte als Frau aus der DDR dem Westen aber immer wieder beweisen, dass sie für ganz Deutschland steht. Ich kenne diese Komplexe, habe sie bloß nicht.

Was hat das mit Komplexen zu tun? Unabhängig davon: Sie sind nicht Kanzler.

Das außerdem. Ich habe den Leuten in München aber vor vielen Jahren bei einer großen Kundgebung gesagt, dass sie mich hier zwar beklatschen, aber zwei Tage später meine Partei trotzdem nicht wählen. Sie klatschten wieder. Frau Merkel konnte vieles durchsetzen, was sie wirklich wollte. Sie hat an einem Wochenende nach dem GAU in Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Warum hat sie nicht mit gleicher Kraft die Angleichung der Renten im Osten an den Westen eingeleitet? Ihr fehlte dafür die Leidenschaft. Und sie glaubte den Westdeutschen beweisen zu müssen, dass sie als Ex-DDR-Bürgerin den Osten nicht besonders fördert.

Sie sind jetzt 71 Jahre alt. Ihre Prognose: Werden Sie in ihrem politischen Leben noch eine Beteiligung der Linken an der Bundesregierung erleben?

Ich denke schon. Ich will ja 100 Jahre alt werden. Wir müssen dabei zwar Kompromisse machen, dürfen aber unsere Identität nicht aufgeben.

Müssen sich SPD und Linke vereinigen, um Wahlen zu gewinnen?

Nein. Es muss eine Partei links von der Sozialdemokratie geben, die konsequenter ist und dadurch Druck auf die SPD ausübt. Wir müssen in Lob und nicht in Strafe denken, in Boni und nicht in Sanktionen wie bei Hartz-IV. Die SPD verkündet jetzt eine andere Politik – höhere Grundrente, Bürgergeld – im Wissen, dass sie das mit der Union nicht durchsetzen wird. Mal sehen, ob das Schaumschlägerei ist oder sie ein ernstes Interesse daran hat – mit den Grünen und uns es in einer Regierung durchzusetzen.

Was noch?

Die Digitalisierung wird uns zwingen, die Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber zu streichen und stattdessen eine Wertschöpfungsabgabe einzuführen. Wir haben Unternehmen mit vielen Beschäftigen, die einen deutlich geringeren Gewinn haben als andere Betriebe mit wenigen Mitarbeitern. Wenn man das ausgleichen will, muss die Abgabe in die Versicherungssysteme an die Wertschöpfung und nicht an die Höhe der Löhne und Zahl der Beschäftigten gekoppelt werden. Dann wird nach tatsächlicher Wirtschaftslage der Unternehmen abgerechnet. Das wäre gerechter.

Hilft oder spaltet es die Linke, dass ihre Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht und deren Ehemann Oskar Lafontaine die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gegründet haben?

Weder noch. „Aufstehen“ erledigt sich Schritt für Schritt von selbst. Man kann eine Bewegung nicht von oben beschließen. Das entsteht entweder von unten oder gar nicht. Und eine Bewegung funktioniert nur für ein Thema – gegen Abholzung eines alten Waldes in Nordrhein-Westfalen oder gegen das Polizeigesetz in Bayern oder für die Bienen in Bayern. Aber für ein Angebot von A bis Z gibt es Parteien. „En Marche“ von Emmanuel Macron in Frankreich war eine Ausnahme. Und Deutschland ist nicht Frankreich.

Würden Sie sich wie Frau Wagenknecht eine Gelb-Weste anziehen und vor das Kanzleramt stellen? Wie stehen Sie zu den Protesten dieser Bewegung in Frankreich?

Gelb steht mir nicht. Die Methoden der Gelbwesten sind zum Teil nicht akzeptabel, ihre Anliegen aber zum Teil gerechtfertigt. Ich wünsche mir ein Rebellentum ohne Gewalt. Und ich hoffe, dass die Rechtsextremen keinen Erfolg haben werden, diese Bewegung zu übernehmen.

Ist Sahra Wagenknecht die Richtige an der Fraktionsspitze der Linken?

Sie ist wichtig für die Linke. Sie ist eine sehr bekannte Persönlichkeit der Partei. Sie tritt im Fernsehen gut auf. Man muss aber immer wissen, was man gut kann und was man nicht so gut kann. Ich glaube, Sahra muss ihre Rolle in der Partei für sich neu definieren.

Was wird Ihre Botschaft als Chef der Linken in Europa vom Europa-Parteitag ihrer Partei nächstes Wochenende in Bonn sein?

Die Linken bestehen meist aus negativen Botschaften, weil wir das herrschende System kritisieren. Wir müssen den Leuten aber auch Hoffnung geben – positive Botschaften senden. Das wird auch mein Appell sein: Wir müssen um mehr Demokratie kämpfen und nicht nur immer erzählen, was alles undemokratisch ist.

Vor 30 Jahren fiel die Mauer, was fehlt Ihnen aus DDR-Zeiten?

Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft, was erstmal negativ ist. Wir waren dadurch aber mehr aufeinander angewiesen.

Was fehlt Ihnen in der Bundesrepublik?

Die Nähe. Die Gesten der Gemeinsamkeit fehlen. Wir vereinsamen. Und es bleibt ein Makel: Die Bundesrepublik hat sich 1989 für die Stärken des Ostens nicht interessiert. Wir waren in der Gleichstellung der Frauen weiter, wir hatten Polikliniken und viele Kindertagesstätten. Heute besinnen sich Politiker darauf, aber es wird nicht mehr mit dem Osten in Verbindung gebracht. Das ärgert mich. Ich hätte es Ihnen gegönnt, wenn Sie als Wessi schon bei der Wiedervereinigung gemerkt hätten, dass mit einigen Momenten aus der DDR auch Ihre Lebensqualität verbessert worden wäre. Das kommt jetzt 30 Jahre später, aber als Vereinigungserlebnis zu spät.

Was ist eine Männerfreundschaft?

Zuverlässigkeit. Grenzenloses Vertrauen.

Haben Sie eine solche Freundschaft?

Ja, zu meinem Rechtsanwaltskollegen Walter Venedey.

Haben sie auch eine besondere Freundschaft zu einer Frau?

Ja, zu meiner geschiedenen Frau Andrea.

Zerstört die Politik Ehen von Politikern?

Ja, zumindest wenn man sich so benimmt, wie ich mich benommen habe. Wenn man in der ersten Reihe steht, nimmt man sich zu wichtig. Dann vernachlässigt man Dinge, die man nicht vernachlässigen darf.

Bereuen Sie das?

Ja.

Das Gespräch führte Kristina Dunz