Oliver Reifenrath: Der Sherlock Holmes der Postgeschichte

Der Postgeschichtler Oliver Reifenrath bereitet dem in Deutschland neuen Forschungszweig der Social Philately den Weg. Wie ein Detektiv enträtselt er historische 
Briefcouverts, von denen die kostbarsten etwa an den „Märchenkönig“ Ludwig II. gerichtet waren.

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Seine Leidenschaft gehört historischen Briefen: Oliver Reifenrath mauserte sich in langjährigen Studien zu einer Mischung aus Detektiv und Universitätsprofessor. Für Deutschland entdeckte er die Social Philately und stellt seine Forschungsergebnisse international aus. Foto: Peter Seel
Seine Leidenschaft gehört historischen Briefen: Oliver Reifenrath mauserte sich in langjährigen Studien zu einer Mischung aus Detektiv und Universitätsprofessor. Für Deutschland entdeckte er die Social Philately und stellt seine Forschungsergebnisse international aus.
Foto: Peter Seel

Offenbar wurde der angegraute Briefumschlag vor langer Zeit mit dem Kiel einer Gänsefeder beschriftet. Die schwungvolle Tintenschrift gibt eine Adresse in Südafrika an. Daneben eine alte bayerische Briefmarke und etliche Stempel aus dem Jahr 1870. Oliver Reifenrath schaut sich das Büttenpapier genau an. Für ihn geben diese wenigen Quadratzentimeter viel mehr preis als für jeden Laien – ohne dass er die Zeilen des Briefschreibers im Innern je zu Gesicht bekommen hätte. Reifenrath, der Postgeschichtler, lässt das historische Couvert sprechen: Es erzählt die Geschichte eines angesehenen Augsburger Geschäftsmannes, dessen Post nach Kapstadt verschickt wird. Durch die Frankierung mit 42 Kreuzern erfährt der 47-jährige Siegener, dass der 17 000 Kilometer lange Weg des Schreibens über England und Preußen führte; durch die Stempel weiß er, dass der Brief mit dem Dampfschiff „Cambria“ der Union Steamship Company über Ostende, Devonport, Madeira führte, dann die Westküste Afrikas entlang kreuzte bis zum Hafen im Prince-Albert-Westcap.

Oliver Reifenrath, der in Mudersbach (Kreis Altenkirchen) als junger Briefmarkensammler angefangen hat, ist heute ein Experte seines Fachs, ein Hobbyhistoriker, auf den der Begriff Hobby so gar nicht passen will – er ist der erste in Deutschland, der das Forschungsgebiet der Social Philately beackert, eine Sparte, die im englischsprachigen Raum schon länger etabliert ist. Bei der Social Philately wird der historische, regionale und biografische Kontext eines Briefs erforscht und dokumentiert. Spannend, nicht nur für Briefmarkenfans.

Das Thema hat ihn in Philatelistenkreisen schnell bekannt gemacht; längst wird er zu internationalen Auktionen und Ausstellungen mit Fachleuten aus aller Welt eingeladen. So wurde er schon jetzt zur „Stockholmia“ im Jahr 2019 ins Kongresszentrum der schwedischen Hauptstadt eingeladen, mithin zu einer der international angesehensten Messen von Briefmarkenexperten unter Vorsitz von König Carl Gustav. Der Ritterschlag für jeden Philatelisten.

Seit 1989 lebt der Mudersbacher in Siegen. Einerseits pflegt er weltweite Kontakte zu Experten, Prüfern und befreundeten Sammlern, um andererseits viele Stunden pro Woche Studien in seinem mit Fachliteratur vollgestopften Zimmer zu betreiben. Als ein Sherlock Holmes der Philatelie ist er auf den Spuren der Geschichte, die er auf jedem der kostbaren Couverts entdeckt und enträtselt. Jede Marke, jede Zeile, jeder Tintenstrich, ja: jeder Kratzer darauf wird erforscht – bis sich das Puzzle einer Reise, eines historischen Ereignisses, eines längst vergangenen Lebens zusammensetzt. Versteht sich von selbst, dass Reifenrath die alte deutsche Sütterlinschrift genauso gut wie Kurrent lesen kann, dass er sich bei historischen Währungen, Gewichten, Maßen, Postverträgen sowie auf den Landkarten und in den politischen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts auskennt. „Aber“, sagt er, „man bleibt immer ein Lernender.“

So macht der Siegener mit jedem seiner Sammlerstücke Geschichte(n) lebendig. Manche seiner Briefe sind so selten, dass selbst alte Hasen aus der internationalen Philatelistenszene nicht glauben können, dass es sie überhaupt gibt – etwa einer, der an den Bayerischen „Märchenkönig“ Ludwig II. höchstselbst gerichtet und mit zwei sogenannten Brustschild-Marken des Deutschen Reiches frankiert ist. Laut Roland Meiners, Geschäftsführer des Kölner Auktionshauses Dr. Derichs und seit 30 Jahren Koryphäe auf dem Gebiet, das einzig bekannte Stück dieser Art. Die Ergebnisse seiner Recherchen fasst Reifenrath in Fachartikeln zusammen, die bei Ausstellungen seine Raritäten kommentieren oder in einschlägigen Zeitschriften und Rundbriefen veröffentlicht werden. Aus dem Detektiv ist ein Universitätsprofessor geworden. „Klar geht es um Forschung“, sagt der Mann, der hauptberuflich als Finanz- und Immobilienberater arbeitet, „um den Spaß an lebendiger Geschichte und um die Menschen aus früheren Zeiten.“ Wie etwa um den Augsburger Geschäftsmann, dessen Leben sich mehr und mehr vor dem Sammler ausbreitet, je genauer er vom Stempel auf die Schiffsgesellschaft und von dort auf viele Details der damaligen Zeit schließen lässt. „Die ungestempelte Marke ist stumm“, lautet Reifenraths Motto, „die gestempelte flüstert – der Brief erzählt.“

Wenn er in seinen Alben blättert und erzählt, glitzern seine Augen. Fokussiert hat er sich mit seiner Sammlung auf Briefe, deren Weg aus Bayern in die Welt, durch Bayern hindurch oder von irgendwo auf dem Globus nach Bayern geschickt wurden – in der Zeit zwischen 1806 und 1871. „Ich höre da auf, wo andere anfangen zu sammeln“, schmunzelt er nicht ohne Stolz. „Ziel meiner Ausstellungen ist es, wesentliche Aspekte der postgeschichtlichen, gesellschaftlichen, politisch-militärischen und sozialen Entwicklung Bayerns darzustellen. Anhand dieser Phase kann man fast die ganze damalige Welt erklären.“ Und er zeigt weitere Briefe von oder an Ludwig II., sagt: „Wenn sie ordentlich beschriftet waren, war es sein Sekretär, wenn's eine Sauklaue ist, hat er selbst geschrieben.“ Dann hält er einen Brief des Komponisten Richard Wagner von 1873 in der Hand oder einen von Sophie von Bayern, der Schwester von Kaiserin Sissi von Österreich und Verlobten von Ludwig II. Andere Kostbarkeiten stammen von einem Intimfreund Otto von Bismarcks von 1866 oder von Fürst Clemens von Metternich aus dem Jahr 1859.

Und dann sind da die einfachen Leute, die Reifenrath (fast noch mehr) interessieren: Der Oberstleutnant, der als einer der wenigen 1866 die Schlacht von Königgrätz zwischen Österreich und Preußen im Deutschen Bruderkrieg überlebt hat. Der ganze Brief ist in Reifenraths Besitz. „Es rührt mich immer wieder“, sagt er, „dass er seiner Mutter aus der Schlacht schreibt: ,Euer Gebet hat geholfen! War durch vier Stunden im heftigsten Geschütz- und Gewehrfeuer, und nicht ein Haar ist mir gekrümmt worden.'“ Oder der Heizungsbauer aus den USA, der aus Boston einen weltweit einzigartigen Brief an den Bayerischen König Maximilian II., Vater des Märchenkönigs, schickt – seine damals hochmodernen Heizungsanlagen wurden in den Königsschlössern eingebaut.

In ganz Deutschland ist Reifenrath für solche Originale herumgereist, handelte über den Atlantik hinweg bei einem US-amerikanischen Auktionshaus einen Brief an Fürst Clemens von Metternich ab, der eigentlich schon verkauft war. Für viel Geld. „Zum Autohändler gehen und einen Porsche kaufen, das kann jeder“, sagt der Mudersbacher, „aber so eine Sammlung als Lebenswerk aufbauen, nicht.“

Mit sieben Jahren hat er angefangen, Briefmarken zu sammeln, „weil mich schon damals fasziniert hat, dass ich auf den Marken alle Länder der Welt sehe. Fast mein ganzes Taschengeld ging dafür drauf.“ Dann eines Tages packte ihn die Leidenschaft zum Schlagzeug spielen. Er wurde einer der besten im Siegerland, spielte bei namhaften Bands, mischte schließlich bundesweit im Musikgeschäft mit, schaffte mit eigenen Songs respektable Chartplatzierungen. Fakt ist, dass dies alles begann, als er 14 Jahre alt war – und als er seine 15 Briefmarkenalben im Wert von 1400 D-Mark verkaufte, um sich von dem Geld ein Schlagzeug zu kaufen...

Die Jahre vergingen, doch neben seiner Laufbahn als Musiker, seiner Karriere im Beruf, seinem Leben als Familienvater begleitete ihn die Faszination der gezackten bunten Papierschnipsel stets weiter. „Als Junge hatte ich eine Sammlung von 18 Katalogen der John-R.-Boker- Auktion des renommierten Auktionshauses Köhler, in die ich manchmal eintauchte wie in eine andere Welt. Die Kataloge habe ich auch später nie weggegeben und manchmal abends darin geblättert. Ende der 90er-Jahre packte mich wieder die alte Leidenschaft – ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich die Musik aufgeben muss, weil da etwas auf mich wartet.“

Er stieg wieder ein, wurde zum Posthistoriker – bald schon konnte er sich seinen ersten Brief des Auktionshauses John R. Boker selbst kaufen. Seine Sammlung und seine Arbeit sind international gefragt: „Unglaublich, heute wird eine Laudatio auf mich in den Meistersälen im Nassauischen Hof gehalten, in denen in den 80er-Jahren schon John R. Boker gefeiert wurde.“

Von unserem Redakteur Peter Seel

Mehr zum Thema: www.arge-bayern.net sowie www.heinrich-koehler.de Kontakt zu Oliver Reifenrath: www.plansecur.de/o.reifenrath