Silvesterparty in Köln: Zwei Frauen erinnern sich

Silvesternacht in Köln
An Silvester waren in Köln Frauen massenhaft ausgeraubt und sexuell bedrängt worden.  Foto: Maja Hitij/Archiv/dpa Archiv

Vor einem Jahr eskalierte die Silvesterparty auf der Kölner Domplatte. Hunderte Frauen wurden begrapscht und beraubt. Was bleibt von der Nacht von Köln? Zwei Frauen, die seit Jahren in der Stadt leben, erzählen.

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Der Traum von der Großstadt – das war es, was Ricarda vor 16 Jahren nach Köln lockte. „Ich bin im Sauerland groß geworden und wollte weg vom Land, rein in eine richtige Großstadt. Köln war perfekt“, erzählt die 36-Jährige. Die Stadt und der Dom begrüßten Ricarda mit offenen Armen, mit jener Herzlichkeit, für die Köln berühmt ist. „Es ist nicht die schönste, aber die liebenswerteste Stadt, die man sich vorstellen kann“, schwärmt sie, wenn sie an ihr Kölle am Rhein denkt. Die Millionenstadt ist bekannt für Toleranz, für Offenheit, nahm über Jahrzehnte Fremde auf, ob aus dem In- oder Ausland, und bot ihnen Heimat. Bis Silvester 2015. Dann passierte etwas, was Köln zu noch größerer, jedoch trauriger Berühmtheit verhalf. Unzählige Menschen versammelten sich auf der Domplatte. Dort, wo sonst Reisende aus dem Hauptbahnhof eilend ihre Koffer hinter sich her ziehen, wo in der Weihnachtszeit Glühwein ausgeschenkt wird, wo aber auch in dunklen Ecken Drogen von Hand zu Hand gereicht werden, dort wollten Tausende Silvester feiern, ausgelassen ins neue Jahr rutschen.

Organisierte Antanzgruppen

Es kamen aber auch Hunderte, die nicht nur feiern wollten. Sie umzingelten Mädchen und Frauen, tanzten sie an, stahlen Wertsachen, begrapschten sie. Im Böllerqualm und Raketenlärm gingen junge Männer, darunter auch Flüchtlinge und die sogenannten Antanzgruppen, die sich über soziale Netzwerke organisiert haben sollen, den Frauen an die Wäsche. Von der Bahnhofsvorhalle bis hin zu den Toren des Doms wurden sie übergriffig und brachen in aller Öffentlichkeit Gesetze. Die Polizei in deutlicher Unterzahl und heillos überfordert, die Opfer auf sich allein gestellt. Zurück blieben Hunderte vor allem junge Frauen – seelisch und auch körperlich verletzt -, 1222 Strafanzeigen und eine traumatisierte Stadt. Die Nacht von Köln brannte sich ins kollektive Gedächtnis ein.

Als die Situation auf der Domplatte am 31. Dezember 2015 eskalierte, feierte Ricarda mit Freunden am anderen Ende der Stadt. „Die Kölner selbst feiern dort nicht. Das ist denen viel zu touristisch“, erklärt sie. Ricarda war geschockt, als sie die Nachricht von den Vorfällen am Dom erreichte. „Ich habe erst am 6. Januar begriffen, was passiert ist, als dann die Nachrichten durchsickerten“, erzählt sie. Besonders erschüttert hat sie die mangelhaft besetzte Polizei. „Das Problem mit den Antanzgruppen ist in Köln schon so lange bekannt. Karneval, Großveranstaltungen, auch im Alltag findet man die immer wieder. Wie konnte die Polizei darauf nicht vorbereitet sein?“, fragt sich Ricarda. Doch an ihrem Verhalten ändert die Nacht von Köln nichts, sagt sie. Die 36-Jährige ist kein Angstmensch, fährt auch im Dunkeln mit dem Fahrrad durch die Stadt, nimmt ganz normal die Bahn, ohne Ängste oder mulmiges Gefühl.

Ricardas Freundin Julia sieht das anders. Julia reist viel, hat schon in Sao Paulo in Brasilien gelernt, dass es ratsam ist, nicht im Dunkeln zu Fuß durch die Straßen zu streifen. „Das hat nichts mit Vorurteilen zu tun. Ich bin einfach vorsichtig und minimiere das Risiko“, erklärt sie. Die 37-Jährige meidet große Menschengruppen, steht bei Konzerten lieber außerhalb des Gedränges und hat am liebsten ihr Umfeld im Blick. „Ich bin vor Kurzem aus dem eher ländlichen Köln-Riehl in den Kölner Süden gezogen, muss jetzt eine Viertelstunde zur Bahn laufen, da nehme ich schon häufiger das Taxi, steige auch mal eine Station früher aus, wenn ich mich unsicher fühle. Ich gehe auch nicht im Dunkeln am Rhein joggen. Ich bin da eher auf Sicherheit bedacht“, sagt Julia.

Hohes Sicherheitsbedürfnis

Und ist damit den meisten Deutschen nicht unähnlich. „Wir haben eine Art Vollkaskomentalität. Das heißt: Wir haben in unserer Gesellschaft schon den Anspruch, möglichst alle Risiken des Lebens absichern zu können“, erklärt Stephan Grünewald, Psychologe und Begründer des Rheingold Meinungsforschungsinstituts in Köln. Er beschäftigt sich mit den Themen Angst und Sicherheitsgefühl und hat diesbezüglich auch die deutsche Mentalität in den Blick genommen. „Wir haben in den vergangenen Jahren eine Situation erlebt, in der wir das Gefühl hatten, Deutschland sei eines der letzten Paradiese in der Welt, ist aber umbrandet von Krisenherden. Das hat dazu geführt, dass sich bei uns ein mulmiges Gefühl entwickelt hat: Irgendwann könnten die Krisen in unser Land schwappen und diese gefestigten Strukturen erschüttern. Daraus entwickelte sich eine Sehnsucht nach der permanenten Gegenwart, wir wollten diesen Zustand erhalten“, analysiert Grünewald.

Mit der Öffnung der Grenzen und den ankommenden Flüchtlingen zog auch Unsicherheit in die Bevölkerung ein. „Unbewusst hatte man das Gefühl, da kommt eine Kraft ins Land, die uns nicht ganz geheuer ist. Das wurde schon vor Silvester mit Bedrohungsszenarien verbunden. Da kommt eine Kraft ins Land, die uns nicht wohlgesinnt ist, so die Sorge. Die wollen unsere Frauen verführen und unsere Arbeitsplätze wegnehmen. Diese Befürchtungen haben über Silvester Nahrung bekommen und wurden zum Tatbestand“, erklärt Grünewald.

Es folgte so etwas wie eine moderne Hexenjagd. Für die Taten der Silvesternacht von Köln wurden besonders in den sozialen Netzwerken pauschal alle Flüchtlinge, Migranten, Ausländer verantwortlich gemacht, nicht nur aufgrund der schleppenden Ermittlungen fiel die Reflexion schwer. „Wenn wir im Angstmodus sind, dann differenzieren wir nicht. Das führt dazu, dass wir es immer mit großen Pauschalisierungen zu tun haben“, so Grünewald. Fälle wie in Freiburg, wo ein Flüchtling eine Studentin getötet haben soll, oder der Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt bestätigten ähnlich wie Silvester, dass Flüchtlinge potenzielle Täter, zum Teil auch Mörder seien. Die nüchterne Reflexion funktioniert dann nicht mehr. Ricarda macht eine andere Beobachtung: „Ich denke, die meisten Kölner sehen da im Hinblick auf die Silvesternacht eine klare Trennung. Für uns war es die Antänzerszene, das hatte nichts mit den Flüchtlingen zu tun.“

Jetzt, ein Jahr danach, zieht die Stadt Konsequenzen und macht die Silvesterparty auf der Domplatte zum Hochsicherheitstrakt. „Silvester 2016 wird gekennzeichnet sein durch eine sehr große Polizeipräsenz“, stellt der Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies klar. 1500 Polizisten und Hunderte weitere Kräfte wollen es nicht noch einmal zur Eskalation kommen lassen. Ricarda sieht das skeptisch. „Man konzentriert sich auf die Domplatte und den Bahnhof, auch die Hohenzollernbrücke, doch was ist mit dem Rest der Stadt? Theoretisch kann das überall passieren.“

Diskussionen wurden leiser

Die Erinnerung an die vergangene Silvesternacht verblasst, noch in der ersten Jahreshälfte rege geführte Diskussionen sind leiser geworden. Allein die Stimmen der Opfer – jener Frauen, die in der Silvesternacht verletzt und traumatisiert zurückblieben – sind hier und da noch zu vernehmen. Und pünktlich zu Silvester rückt die Nacht von Köln noch einmal in den Fokus der Medien. Ricarda und Julia sind bei ihrer Einstellung geblieben. „Wer bisher ohne Angst auf Großveranstaltungen gegangen ist, wird das weiter tun. Sicher, es gibt auch Freunde, die sich verunsichern lassen, die jetzt lieber zu Hause bleiben. Für mich trifft das nicht zu“, stellt Ricarda fest. Julia hingegen ist heute aufmerksamer, schaut mehr, was sich in ihrer Umgebung tut: „Es gibt schon mehr Polizei in der Stadt, auch an Karneval war das deutlich. Mein Freund macht sich auch Sorgen und bittet mich, nicht so oft mit der Bahn zu fahren, lieber ein Taxi zu nehmen. Ich werde weiterhin Großveranstaltungen wenn überhaupt dann mit Vorsicht besuchen.“ Silvester wird sie dieses Jahr wieder im fernen Ausland im kleinen Kreis verbringen. Während Köln auf Plakaten um sein Image als toleranteste Stadt Deutschlands kämpft: „Kommt gut ins neue Jahr! Fröhlich und sicher Silvester feiern in Köln“, dazu ein Herz mit den Umrissen des Doms.

Marta Fröhlich