Debatte um Leitkultur: Was ist typisch deutsch?

Dieter Borchmeyer
Dieter Borchmeyer Foto: frei

Im Ausland schüttelt man oft den Kopf über die seltsamen Deutschen. Kein anderes Land in Europa hat ein so kompliziertes Verhältnis zu sich selbst. Die Zuwanderung hat eine neue Debatte darüber entfacht, was eigentlich deutsch ist. Manche fürchten, das Eigene könnte verloren gehen, wenn viel Fremdes hinzukommt. Der Literaturwissenschaftler und frühere Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste hat in seinem Buch „Was ist deutsch?“ kluge Antworten auf die ewige Frage gefunden, was das Deutsche ausmacht und was daran liebenswert ist. Das Interview mit Dieter Borchmeyer:

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Herr Borchmeyer, was ist deutsch?

Das lässt sich nicht so einfach bestimmen, denn wie Bundestagspräsident Norbert Lammert einmal sagte: Die Frage ist schon die Antwort.

Wieso das?

Es lässt sich nicht in drei Sätzen zusammenfassen. Versuchen wir es erst einmal mit der Sprache: „Deutsch“ kommt vom germanischen Wort „thioda“ = Volk. Das Wort „thiodisk“ = deutsch ist die Bezeichnung für die Sprache der germanischen Stämme Mitteleuropas, im Gegensatz zum Lateinischen und zu den romanischen Sprachen. Das ist interessant, weil sich andere nationale Adjektive wie französisch, englisch oder italienisch nicht von der Sprache, sondern von einem Volksstamm ableiten: den Franken, Angeln oder Italern. Deutsch ist dagegen ursprünglich eine Sprachbezeichnung, also ein rein kultureller Begriff. Das Wesen des Deutschen bezog sich schon immer auf Kultur.

Was bedeutet das?

Im 18. Jahrhundert, als die Diskussionen um das, was deutsch ist, ihren ersten Höhepunkt erreichen, formulieren etwa Goethe und Schiller: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hoffet es, Deutsche, vergebens. Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“ Das Deutsche wurde als menschliche, übernationale Identität begriffen. Oder ein anderes Zitat von Goethe und Schiller: „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“ Das intellektuelle-kulturelle und das politische Deutschland fallen also für Goethe und Schiller nicht zusammen. Der Begriff des Deutschen ist für sie eben kein spezifisch politisch-nationaler oder ethnischer Begriff gewesen.

Aber was macht das Deutsche aus?

Das Wesen des Deutschen wurde schon aus der „Germania“ des römischen Historikers Tacitus abgeleitet, die im 15. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. Darin bezeichnet er die Germanen, die man später mit den Deutschen gleichsetzte, als tugendhaft, rechtschaffen, ehrlich, arbeitsam, tapfer, gehorsam und treu, als Menschen „ohne Falsch und Trug“. Werte, die seither immer wieder mit dem Deutschen verbunden wurden. Es sind Bestimmungen des Deutschen, die in der Neuzeit mit spezifisch bürgerlichen Werten identifiziert wurden, wie Zuverlässigkeit, Arbeitseifer und Pünktlichkeit.

Warum haben andere Länder nicht so große Probleme, ihre Identität zu beschreiben, wie Deutschland?

Die französische Nation zum Beispiel hat ja schon sehr früh ihre festen politischen Konturen herausgebildet. Im Grunde lief dort spätestens im 17. Jahrhundert alles auf einen Zentralstaat hinaus. Was man unter französisch verstand, ist seit Jahrhunderten festgelegt. Gleiches gilt für England. Viele europäische Staaten hatten im 17. Jahrhundert ihre Blütezeit. In Deutschland tobte stattdessen der Dreißigjährige Krieg, das Land war am Boden. Es war kleinstaatlich völlig zersplittert. Es gab eigentlich kein Deutschland. Und damals begann man schon die Frage danach zu stellen, wer wir eigentlich sind. Die Deutschen sind sich ihrer Identität bis heute nie wirklich gewiss gewesen.

Aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit Bismarck gibt es doch einen deutschen Staat …

1871 entstand mit der preußischen Übermacht ein autoritärer Machtstaat, dann kam die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, aus dem die schwache Weimarer Republik hervorging. Im Dritten Reich wurde anschließend von oben herab verordnet, was deutsch ist und was nicht. Die Nationalsozialisten etablierten ein Ausgrenzungs- und Abgrenzungsdeutschtum, das den eigentlichen Tugenden des Deutschen zutiefst widersprach. Das Deutsche ist von seinem Ursprung her etwas Kosmopolitisches. Von Goethe über Nietzsche bis Thomas Mann wurde immer wieder zu Recht betont, dass das spezifisch Deutsche nie aufgeht in einer nationalen Bestimmung, sondern weit darüber hinausweist. Von „Weltdeutschtum“ hat Thomas Mann gesprochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Frage der nationalen Identität in den zwei deutschen Staaten zum Tabu. Erst durch die Wiedervereinigung 1990 wurde die Frage, was eigentlich deutsch ist, wieder aus der Tabuzone herausgeholt. Sie treibt uns ja bis heute um.

Was halten Sie von der aktuellen Debatte um eine Leitkultur?

Der Begriff Leitkultur ist überflüssig wie ein Kropf. Kultur sollte man nicht mit dem Begriff der Leitung verbinden, denn das würde bedeuten, dass vieles ausgeschlossen wird. Kultur ist etwas, das sich aus sich selbst ergibt, das Fremdes und Eigenes verbindet, Traditionelles und Neues. Sie ist eine Systemmenge, aus der manches irgendwann ausscheidet, anderes hinzukommt. Niemand kann Kultur verordnen. Gerade die deutsche Kultur hat sich gebildet als Versammlung des Unterschiedlichen – vom Orient bis Europa. Beispiel Musik: Richard Wagner hat einmal gesagt, dass es deutsche Musik im eigentlichen Sinne nicht gibt, weil sie eine Synthese verschiedener Nationalstile sei. Das ist im Grunde die deutsche Kultur: Sie ist offen, nimmt vieles aus aller Welt in sich auf. Die deutsche Literatur ist ja wie keine andere aus Übersetzungen entstanden. Mit einer Leitkultur aber wird eine Hierarchie hergestellt. Das halte ich für falsch.

Es gibt offenbar das Bedürfnis, feste Regeln und Werte zu vermitteln oder festzuhalten…

Aber was dann unter einer sogenannten Leitkultur verstanden wird, ist doch recht naiv. Innenminister Thomas de Maizière, den ich ansonsten sehr schätze, hat sich da vergaloppiert mit seinen zehn Geboten für die deutsche Leitkultur. Er beruft sich auf die Orientierungskurse für Migranten, die sie vermitteln sollen. Ich habe mir die Lehrbücher für diese Kurse mal angesehen. Von wirklicher Kultur ist darin überhaupt nicht die Rede. Wenn das Wort mal auftaucht, dann in dem Zusammenhang, dass man in Hamburg Aalsuppe und in Berlin Buletten isst. Es kommt keine Musik, keine Poesie und keine Philosophie vor. Dafür wird eine Grillordnung erwähnt. Bach und Goethe, die de Maizière für so wichtig für das deutsche Selbstverständnis hält, werden da mit keinem Wort erwähnt. Die deutsche Geschichte beginnt in diesen Lehrbüchern im Wesentlichen erst 1933 mit dem Nationalsozialismus. Also wenn das der Begriff von deutscher Kultur ist, den die Migranten und Flüchtlinge in diesen Kursen und Lehrbüchern erhalten, vielen Dank! Auf eine solche Leitkultur kann man gern verzichten.

Migranten beklagen, dass sie in Deutschland nicht ankommen, weil sie einen Patriotismus vermissen. Kann man diesen Konflikt auflösen?

Eine Schülerin von mir unterrichtet in diesen Kursen für Migranten, deshalb habe ich hier einen Einblick. Da kommen oft schwer traumatisierte Menschen zu uns, die überwiegend hoch interessiert an Deutschland sind, und dann erfahren sie nur, dass dieses Land aufgrund seiner Geschichte selbst traumatisiert ist. Das Schöne und Gute an unserem Land kommt da überhaupt nicht vor. Man kann sich doch nur in etwas integrieren, das positive Werte enthält. Man muss dafür die positiven, liebenswerten Seiten der deutschen Kultur und Mentalität hervorheben. Es gab zwar den deutschen Nationalismus mit allen entsetzlichen Folgen, aber es gab vorher und nachher eben auch den deutschen Kosmopolitismus. Da braucht man nur die weltumspannende Wirkung der deutschen Musik und Philosophie ins Feld zu führen. Wenn man aber nur etwas vom Nationalsozialismus hört und vielleicht noch ein bisschen von der Nachkriegsgeschichte wie in diesen Orientierungskursen: Warum soll man sich in ein so düsteres, ja von seiner Geschichte her abstoßendes Land integrieren?

Kritiker der Idee einer Leitkultur sagen immer wieder, dass das Grundgesetz die deutsche Kultur im Wesentlichen beschreibt. Was halten Sie davon?

Ich halte das für ein ganz törichtes Argument. Das Grundgesetz entfaltet doch keinen Kulturbegriff. Es gibt grundlegende Werte für das politisch-soziale Leben vor, aber über die Kultur kann man daraus kaum etwas lernen. Im Grundgesetz steht nichts über Musik, nichts über Literatur, nichts über Kunst oder unsere ästhetischen Formen der Kommunikation. Deshalb hilft das Grundgesetz für das Verständnis unserer Kultur kaum weiter. Das ist nicht seine Aufgabe. Zur Kultur gehören ja auch Bereiche aus vormodernen Zeiten, Dinge, die nicht demokratisch legitimiert sind, wie zum Beispiel die Religion. Die Religion beeinflusst unser Weltverständnis aber immer noch sehr stark, obwohl ihre Formen und Inhalte nicht durch das Grundgesetz abgedeckt sind. Zu sagen, wir brauchen keine Leitkultur, weil wir das Grundgesetz haben, ist also gänzlich verfehlt.

Gerade die AfD vermisst Patriotismus und beklagt, der Gemütszustand der Deutschen sei der eines „total besiegten Volkes“. Warum findet das Anklang?

Leider ist dieses Argument der AfD ja nicht unberechtigt. Es ist schlimm genug, dass sich die anderen Parteien von der AfD dieses Argument abnehmen lassen. Natürlich gibt es die großartigsten und wunderbarsten Seiten der deutschen Kultur, die in aller Welt bewundert werden und der die Welt unendlich viel verdankt. Was wäre denn unsere Welt ohne Bach und Beethoven, ohne Goethe und Rilke, ohne Kant und Schopenhauer? Selbstverständlich muss man auf diese einzigartigen Erscheinungen der deutschen Kultur hinweisen. Sie sind die unentbehrliche Alternative zu einem kruden Nationalismus. Wenn man darauf hinweist, dass die großen deutschen Geister von Lessing über Goethe und Heine bis Nietzsche und Thomas Mann übernational dachten und das Wesen des Deutschen darin sahen, dass es viele Elemente der Weltkulturen in sich aufnimmt, kann man sich wunderbar gegen einen nationalistisch verengten Begriff des Deutschen zur Wehr setzen. Wenn man das aber ausblendet, öffnet man Tür und Tor für einen Rechtsradikalismus. Es ist schlimm, dass man das positive Verhältnis zur eigenen Tradition derart kampflos der neuen Rechten überlässt.

Welche Vorstellung des Deutschen sehen Sie bei den neuen Rechten?

Diese neue Art von Nationalismus, die da derzeit am rechten Rand der deutschen Gesellschaft entsteht, ist furchtbar. Dem muss man entgegentreten. Aber man muss dafür eben auch über die intime Kenntnis unserer Tradition verfügen. Diese Leute von der AfD wissen ja im Grunde gar nicht, was deutsch ist. Was wissen die denn von Hölderlin, von Heine, von Mörike? Ich habe deren Namen aus dem Munde der AfD noch nie gehört. Das liebenswerte Deutsche kennen sie nicht. Auf Thomas Mann, den deutschesten aller Schriftsteller, berufen sie sich nicht. Aber dann sollten es doch die anderen Parteien tun! Thomas Mann ist vor der deutschen Barbarei im Nationalsozialismus geflohen, hat das „wahre Deutschtum“ aber immer verteidigt. Ich habe mit meinem Buch versucht, diese großen deutschen Traditionen wachzurufen und damit auch Argumente zu liefern gegen diese neue Rechte, die mir zutiefst suspekt ist.

Manchmal hilft ja die Betrachtung von außen. Was beobachten Sie: Wie werden die Deutschen vom Rest der Welt gesehen?

Die Betrachtung von außen ist ungeheuer wichtig. Die Sicht der Welt auf uns ist vielfach sehr viel positiver als das, was die Deutschen von sich selbst denken. Natürlich sind Ausländer da viel unbefangener. Wir dagegen haben uns auch immer mit den apokalyptischen und düsteren Seiten unserer Geschichte herumzuschlagen. Es gehört jedoch beides dazu, das Licht wie der Schatten. Beides müsste ins Gleichgewicht gebracht werden, wenn man sich heute um Deutschland und um eine deutsche Identität im Rahmen der europäischen Kultur bemühen will.

Sind Sie stolz, Deutscher zu sein?

Die Gemütshaltung des Stolzseins ist mir sehr fremd. Ich möchte Stolz durch Liebe ersetzen. Ich liebe das Deutsche und ich liebe Deutschland, die deutsche Kultur. Und ich leide darunter, dass sie so oft in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Daran leide ich, aber dieses Leiden kommt eben aus einer tiefen Liebe zum Deutschsein.

Das Gespräch führte Rena Lehmann

Was ist für Sie typisch deutsch?

Wenn es um Integration von Zuwanderern geht, kommt die Debatte immer wieder auf. Aus der Union kam Anfang des Jahrtausends erstmals die Forderung nach einer „Leitkultur“ auf, die sich Deutschland geben müsste, um sich seiner selbst zu vergewissern und Zuwanderern sozusagen ein „Handbuch Deutschland“ ans Herz zu legen.

Zuletzt hat Innenminister Thomas de Maizière (CDU) einen Zehn-Punkte-Katalog vorgelegt – er reicht von Gepflogenheiten des Alltags („Wir geben uns die Hand. Wir sind nicht Burka“) über Bildung und Leistungsbereitschaft bis zum kollektiven Gedächtnis („Wir haben ein gemeinsames kollektives Gedächtnis für Orte und Erinnerungen.“).

Wir möchten von unseren Lesern wissen, was denn für sie deutsch ist oder was aus ihrer Sicht Deutschland ausmacht. Schreiben Sie uns: Rhein-Zeitung, August-Horch-Straße 28, 56070 Koblenz, oder per E-Mail: leserpost@rhein-zeitung.net.

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