Vier Jahre Koblenzer Neonaziprozess: Wenn der Rechtsstaat sich verzettelt

Im Saal 128 am Landgericht Koblenz lief zwischen Sommer 2012 und Mai 2017 der wohl längste und größte Neonaziprozess in der Geschichte von Rheinland-Pfalz. Das Foto ist von August 2016. Foto: Tom Frey
Im Saal 128 am Landgericht Koblenz lief zwischen Sommer 2012 und Mai 2017 der wohl längste und größte Neonaziprozess in der Geschichte von Rheinland-Pfalz. Das Foto ist von August 2016. Foto: Tom Frey

An seinem 288. Tag erreicht der wohl längste Neonaziprozess in der Geschichte von Rheinland-Pfalz seinen Tiefpunkt: Die Ultranationalisten des Aktionsbüros Mittelrhein pilgern zum Richtertisch und greifen gierig nach einer Hakenkreuzstandarte. Einige stürmen nach vorn. Andere warten, bis der Richter sie aufruft. Jeder darf, jeder will sie anfassen. Die Stimmung ist heiter wie beim Klassenausflug. Der Mammutprozess, der die Demokratie vor mutmaßlichen Feinden schützen soll, verkommt zum Klamauk.

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Von unserem Chefreporter Hartmut Wagner

Es ist der 288. Tag eines Prozesses, der nach neun Tagen zu Ende sein sollte. Anfangs plante das Landgericht Koblenz mit vier Wochen Dauer – inzwischen sind es vier Jahre. Der Mammutprozess um das Aktionsbüro ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Der Staat hat sich im Kampf gegen mutmaßliche Neonazistraftäter verzettelt.

Der Prozess läuft und läuft. Aber die Angeklagten hetzen weiter gegen Ausländer und das politische System der Bundesrepublik: Im Juni brüllte Sven Skoda (38) in Dortmund auf einer Demo ins Mikro: „Dieses System ist nichts anderes als der Feind unseres Volkes!“ Mehrere Angeklagte, darunter Christian Häger (31), Chef der NPD Mittelrhein, marschierten 2014 auf einer Neonazidemo durch Aachen. Die Teilnehmer riefen: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ Wenn der Mammutprozess, Teil eines Kampfes gegen rechts sein sollte, ist er weitgehend gescheitert.

Bisher war klar: Der Prozess muss spätestens nach fünf Jahren enden, notfalls abgebrochen und neu begonnen werden. Denn der Vorsitzende Richter Hans-Georg Göttgen (64) geht im Juni 2017 in Ruhestand. Doch der legte kürzlich Prozesstage bis Ende 2017 fest und sorgte damit für wilde Spekulationen.

Der Prozess ist ein Monstrum. Anfangs saßen bis zu 84 Beteiligte im Saal, 26 Angeklagte, 52 Anwälte, ein Staatsanwalt und fünf Richter. Heute sind es noch bis zu 63 Beteiligte. Sieben Angeklagte und 14 Anwälte schieden aus dem Prozess aus. Die 926 Seiten lange Anklage benennt gut 300 Zeugen, jeden Tag ist maximal einer geladen. Kein Prozesstag beginnt pünktlich, irgendwer kommt immer zu spät, mal eine Stunde, mal mehr. Dann, wenn alle sitzen, der Prozess endlich begonnen hat, meldet sich ein Angeklagter und fordert eine Pinkelpause.

Das Foto ist von August 2012.
Das Foto ist von August 2012.
Foto: dpa

Die Neonazis gehen unerbittlich auf Konfrontation, oft mit tatkräftiger Unterstützung ihrer teils geistesverwandten Anwälte. Das zeigt die Episode um die Hakenkreuzstandarte: Am Montag um 14.40 Uhr trägt ein Wachtmeister Asservat „3.1 Nr. 8-65“ in den Saal. Ein Anwalt fordert ihn auf, er möge die rot-weiß-schwarze Standarte drehen – vielleicht sehe die Rückseite ja anders aus. Ein Kollege kritisiert, andere Asservate müssten laut Asservatenliste zuerst gezeigt werden, die Standarte werde nur vorgezogen, weil heute ein Journalist im Saal sitzt. Einer referiert über den Unterschied zwischen Hakenkreuzstandarten und Hakenkreuzwimpeln. Ein anderer beantragt, künftig alle Asservate aus der Nähe begutachten zu dürfen. Nach eineinhalb Stunden beendet Richter Göttgen das Hickhack und erlaubt den Prozessbeteiligten zähneknirschend, die Standarte am Richtertisch anzufassen.

Das Aktionsbüro hatte seine Zentrale im sogenannten Braunen Haus in Bad Neuenahr-Ahrweiler. 2010 zogen fünf Neonazis in das cappuccinofarbene Einfamilienhaus in der Weinbergstraße 17 und gründeten eine ultrarechte Wohngemeinschaft. Mitte März 2012 war Schluss. Die Polizei stürmte das Haus, ebenso weitere Häuser in Rheinland-Pfalz und anderen Bundesländern.

Der Vorsitzende Richter Hans-Georg Göttgen (Mitte) sagte zu Prozessbeginn:
Der Vorsitzende Richter Hans-Georg Göttgen (Mitte) sagte zu Prozessbeginn: „Wir wissen alle, dieses Verfahren sucht seinesgleichen – und wird es nicht finden.“
Foto: dpa

Seit dem ersten Prozesstag am 20. August 2012 streiten die Prozessbeteiligten, ob die mutmaßlichen Mitglieder und Unterstützer des Aktionsbüros eine kriminelle Vereinigung bildeten, für eine neue Hitlerdiktatur kämpften, Hakenkreuze sprühten und Linke verprügelten. Ihre schlimmste Tat laut Anklage: Am 19. Februar 2011 nahmen sie in Dresden an einer Demonstration zum Gedenken an die Bombardierung der Stadt 1945 teil und griffen mit Dutzenden anderen Neonazis die linke Wohngemeinschaft „Praxis“ an. Sie schleuderten Steine, zerschlugen Fenster und schwenkten die schwarz-weiß-rote Reichsflagge. Doch im Prozess berichteten Zeugen, dass die Gewalt von „Praxis“-Bewohnern begonnen worden war.

Das Aktionsbüro war laut Anklage eine hierarchisch gegliederte Kameradschaft, die das Ziel verfolgte, Straftaten zu verüben. Doch die meisten Angeklagten bestreiten das. Sie beschreiben das Aktionsbüro als losen Zusammenschluss, dessen Mitstreiter sich teils erst im Prozess kennenlernten. Einige spotten, es sei eine „Kameradschaft Walter Schmengler“ entstanden, benannt nach dem Oberstaatsanwalt, der die Anklage verfasste.

Es ist ein wichtiger Prozess. Ein Prozess, der zeigt, dass der Staat gegen mutmaßliche, politisch motivierte Gewalttäter massiv vorgeht. So war es 2012, nachdem die mutmaßliche Mordserie der Terrororganisation NSU bekannt wurde. Und so ist es heute, wenn die Flüchtlingskrise und Anschläge wie in Würzburg und Ansbach den politischen Diskurs dominieren, wenn Asylbewerberheime angezündet und Hasskommentare im Internet verbreitet werden. Trotzdem gibt es unter den Anwälten teils berechtigte Kritik an der Durchführung des Prozesses. Die meisten äußern sie nur vertraulich. Einige lehnen ab, dass ihr Name mit dem Prozess in Zusammenhang gebracht wird. Andere schweigen aus taktischen Gründen oder weil ihr Mandant das will. Wieder andere sorgen sich um ihren Draht zur Justiz oder sprechen nie mit der Presse. Unsere Zeitung stellte allen 38 Anwälten 20 Fragen. Vier haben sie teilweise beantwortet.

Hakenkreuzstandarte, Hitlerbüste und „Mein Kampf“: Die Polizei beschlagnahmte im März 2012 bei einer Razzia im „Braunen Haus“ in Bad Neuenahr-Ahrweiler mehrere Nazidevotionalien.
Hakenkreuzstandarte, Hitlerbüste und „Mein Kampf“: Die Polizei beschlagnahmte im März 2012 bei einer Razzia im „Braunen Haus“ in Bad Neuenahr-Ahrweiler mehrere Nazidevotionalien.
Foto: Sascha Ditscher

Die wichtigsten Kritikpunkte an dem Mammutprozess

Das lange Verfahren belastet das Leben der Angeklagten:

Wer seit vier Jahren dienstags, mittwochs und donnerstags im Gerichtssaal sitzt, hat große Probleme, einen Job zu finden. Ein Angeklagter (44) ätzt auf Facebook sogar, er sei von Beruf „Angeklagter bei Landgericht Koblenz“. Viele Anwälte kritisieren, der lange Prozess sei für die Angeklagten eine haftähnliche Form des Freiheitsentzugs.
Das Verfahren ist nicht verhandelbar: Niemand kritisierte dies deutlicher als Anwalt Udo Vetter, der 2015 aus dem Prozess ausschied: „26 Angeklagte – das ist juristisches Harakiri.“ Und: „Man hätte den Prozess nie beginnen dürfen.“ Im Ex-tremfall wird ein Zeuge heute von 63 Prozessbeteiligten befragt. Richter Göttgen klagte 2015 in einem internen Schreiben: „Die Anzahl noch offener Anträge – über die die Kammer in der Vergangenheit wegen zugleich anhängig gemachter Befangenheitsanträge nicht stets zeitnah entscheiden konnte – beläuft sich auf über 100.“

Das Vorgehen des Staates ist unverhältnismäßig hart:

Anwalt Sylvain Lermen kritisiert, dass sieben Angeklagte 22 Monate in U-Haft saßen: „Dies mit Flucht- oder Verdunklungsgefahr zu begründen, war schlicht an den Haaren herbeigezogen.“ Sein Kollege Franz Obst kritisierte 2014, dass das Gericht das Verfahren gegen seinen Mandanten urplötzlich einstellte: „Man kann nicht jemanden fast ein Jahr in den Knast stecken und nach gut 100 Prozesstagen erklären: Ist doch nicht so schlimm, was er getan hat.“ 2014 und 2015 stellte das Gericht die Verfahren gegen zwei weitere Angeklagte ein.

Das Verfahren kostet den Staat Millionen:

Wie viel der Prozess bisher kostete, ist nicht bekannt. Das Gericht teilte unserer Zeitung mit, die Kosten seien „nur mit einem Aufwand ermittelbar, der das zumutbare Maß übersteigt“. Ein am Prozess beteiligter Anwalt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, schätzte die Prozesskosten kürzlich in einer Fachzeitschrift auf 20 Millionen Euro. Sein Fazit: „Der Staatsanwalt muss sich bei Verfassung der Anklageschrift sorgsam überlegen, ob die Einleitung eines derartigen Mammutverfahrens kostenmäßig verhältnismäßig ist.“

Staatsanwaltschaft und Gericht äußern sich derzeit nicht zu den Kritikpunkten. Doch vor zwei Jahren beantwortete der Sprecher der Staatsanwaltschaft einige Fragen.

Das Interview lesen Sie im Netz: ku-rz.de/interview

In dem Prozess prallen Welten aufeinander: Vertreter des Staates treffen auf dessen radikalste Kritiker. Richter und Staatsanwälte mit schwarzen Roben und weißen Krawatten sitzen Ultranationalisten mit „Consdaple“-T-Shirts gegenüber – einer Marke mit Hitlers Parteikürzel NSDAP im Namen. Andere tragen T-Shirts mit Aufschriften wie „Braun ist Trumpf“ oder „I love NS“.

Sven Skoda (38) ist einer der Angeklagten im Prozess und einer der radikalsten Neonazis im Rheinland. Er sagte:
Sven Skoda (38) ist einer der Angeklagten im Prozess und einer der radikalsten Neonazis im Rheinland. Er sagte: „Ich lehne diesen Staat ab.“
Foto: Denise Hülpüsch

Der bekannteste Neonazi unter den Angeklagten ist Sven Skoda – und der einzige, der mit der Presse spricht. Der Düsseldorfer sitzt an einem Mittwochnachmittag in einem Brauhaus seiner Stadt, trinkt Wasser und erklärt: „Ich lehne diesen Staat ab.“ Er wolle nicht zurück ins Jahr 1933, aber das Programm der NSDAP überarbeiten, ein nationales und sozialistisches Deutschland schaffen. Er sieht sich als politisch Verfolgten, verweigert darum vor Gericht die Aussage.

Der Prozess gilt in der rechten Szene als Schauprozess, der die politische Arbeit „aufrechter Deutscher“ kriminalisieren soll. Nicht zuletzt weil Angeklagte und Anwälte dies in Vorträgen bei Parteien wie NPD und Der III. Weg immer wieder behaupten. Safet Babic, Sprecher der rheinland-pfälzischen NPD, nennt den Prozess eine „rechtswidrige Repression gegen die nationale Opposition“. Zuletzt schien es, als käme Bewegung in den Prozess. Oberstaatsanwalt Walter Schmengler erklärte, er betrachte den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht als Credo. Er wäre bereit, den Prozess, den er Trauerspiel nannte, für einige Angeklagte zu beenden, damit sie ihre Zeit besser nutzen könnten. Es kam zum Tumult. Skoda warf ihm vor, dass ihn dies „vier Jahre lang einen Dreck gekümmert“ habe. Mehr passierte bisher nicht.

Wann der Prozess endet, ist unklar. Weder das Justizministerium noch das Gericht können auf Nachfrage erklären, warum der Richter den Prozess über seine Pensionierung hinaus terminiert hat. Einige Anwälte vermuten, er baue nur eine Drohkulisse auf. Andere glauben, er wartet auf eine Gesetzesänderung, die es ihm ermöglicht, länger zu machen.