Rheinland-Pfalz

Medizinische Versorgung in Deutschland krankt: Gesund ohne Doktor?

Von Nicole Mieding

Die medizinische Versorgung in Deutschland krankt: 50 Prozent der ärztlichen Diagnosen sind falsch, glaubt der bekannte Mediziner und Fernsehmoderator Dr. Eckart von Hirschhausen. Sein alarmierender Befund: Die Hälfte aller Beschwerden sind gar nicht körperlicher, sondern psychosomatischer Natur.

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Mit gründlicheren Arzt-Patienten-Gesprächen ließe sich das herausfinden. Doch Medizinern bleiben im Schnitt nur ganze sechs Minuten für den Patientenkontakt, sagt Hirschhausen. Die Folge: Immer mehr Patienten fühlen sich in der klassischen Medizin nicht richtig wahrgenommen und suchen ihr Heil bei Akupunktur, Homöopathie oder Osteopathie. Je nach Umfrage beschreiben sich bereits 60 bis 80 Prozent der Deutschen offen für alternative Heilverfahren.

Diagnose: Das System krankt

Dem derzeitigen Gesundheitssystem stellte Hirschhausen jüngst in seiner Gastvorlesung an der Mainzer Uniklinik einen misslichen Befund aus. „Der allergrößte Teil der Diagnosen lässt sich allein über Fragen, Zuhören, Abhören und Abtasten stellen – werden Sie kein Hellseher, sondern ein Hinseher“, forderte er die angehenden Ärzte im Hörsaal der Chirurgie auf. Die jungen Mediziner reagierten vor allem mit Selbstkritik. Von „herablassenden Ärzten, die nicht richtig zuhören und dem Patienten die Worte in den Mund legen“ berichtete etwa eine Studentin, die jahrelang als Krankenschwester gearbeitet hat und jetzt eine bessere Ärztin werden will. Eine angehende Zahnärztin beklagte, dass ausgerechnet in ihrem Fach Psychologie überhaupt keine Rolle spielt. „Dabei wäre das besonders wichtig, damit ich lerne, wie ich meinen künftigen Patienten die Angst nehmen kann“, sagt die 24-jährige Studentin.

Doch vier von fünf Patienten schaffen es erst gar nicht, ihr Anliegen beim Arzt anzubringen. In der Regel bricht ein Hausarzt den Patientenmonolog schon nach 11 bis 24 Sekunden ab. „Das führt zu Fehlschlüssen und teuren, oft unnötigen Behandlungen. Für den Patienten kann es sogar gesundheitliche Folgen haben“, warnt Hirschhausen. Wenn es den Hausarzt überhaupt noch gibt: 2015 standen in Rheinland-Pfalz 2715 Hausärzte 4484 Fachärzten und Psychotherapeuten gegenüber.

Dabei hängt der Erfolg einer Therapie maßgeblich vom Verlauf des Arztgesprächs ab – das möglichst nicht nur ein Symptom, sondern den ganzen Menschen und sein Umfeld bei der Anamnese im Blick hat. Menschliche Zuwendung hat, genau wie Lachen und eine liebevoll gekochte Mahlzeit, einen erheblichen Einfluss auf unseren Heilungsprozess.

Im Alltag deutscher Kliniken herrscht aber ein chronischer Mangel an Zeit und Personal. „Das Abrechnungsmodell über Fallpauschalen bedeutet, dass der Patient in dem Moment, in dem er aus dem OP kommt, für das Krankenhaus uninteressant wird“, betont Eckart von Hirschhausen. Kaufmännisches Interesse und Patientenwohl sind zu Gegenspielern geworden.

Heilsuche in der Naturheilkunde

Viele Patienten reagieren darauf, indem sie ihr Heil andernorts suchen: 57 Prozent haben laut einer GfK-Umfrage der „Apotheken Umschau“ schon einmal eine alternative Heilmethode wie Akupunktur oder Homöopathie in Anspruch genommen. 63 Prozent versuchen zuerst, sich mit pflanzlichen Mitteln zu behelfen. Viele Therapieformen werden inzwischen auch von Krankenkassen unterstützt. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass diese Methoden auch wirksam sind. Den meisten alternativen Heilmethoden bescheinigt die Wissenschaft allenfalls einen Placeboeffekt: „Es gibt keine einzige Studie, die zeigt, dass die Wirkung von Globuli der von Placebos überlegen ist“, sagt Prof. Dr. Jutta Hübner, Spezialistin für die Integration von Naturheilverfahren am Uniklinikum Jena. Doch Placebos wirken: Die Aufmerksamkeit eines Therapeuten, Körperkontakt während einer „Be-Handlung“ sowie ein Mittel zur Selbsthilfe, dargereicht in Form von Zuckerpillen ohne messbaren Wirkstoff, haben durchaus heilenden Effekt. Anders ist das bei der Pflanzenheilkunde. „Es gibt eine sehr gute, wissenschaftlich fundierte Tradition beim Einsatz von Heilpflanzen“, betont die Expertin.

Ganz unversöhnlich stehen sich klassische Medizin und Naturheilkunde heute nicht mehr gegenüber. Statt Entweder-oder gilt bei der Therapiewahl zunehmend ein Sowohl-als-auch: Die sogenannte Komplementärmedizin hat begonnen, die Möglichkeiten, die in Naturheilverfahren liegen, ergänzend einzusetzen. Und sie hat die Notwendigkeit einer sprechenden Medizin – und damit des Zuhörens – wiederentdeckt. Das kann dazu führen, dass der Arzt kein Rezept ausstellt, sondern zu einem bewährten Hausmittel rät, auf Selbstheilungskräfte setzt und den Patienten mit dem guten Rat, sich in Ruhe auszukurieren, entlässt. „Die Kunst der Medizin besteht darin, so viel wie möglich nichts zu tun“, gab Hirschhausen den Studierenden zum Schluss der Vorlesung seinen Lieblingssatz mit.

Von unserer Chefreporterin Nicole Mieding